Sedanur Karaça. Eine Kiezgröße in Moabit
von Gerald Backhaus
Treffpunkt in der Sonne in der verkehrsberuhigten Pritzwalker Straße. Direkt am Brunnen brennt die Sonne zu stark, deshalb geht's gleich weiter zu einer halbschattigen Bank an der Ecke zur Dreysestraße. Der Platz mit dem Brunnen ist einer von Sedanur Karaças Lieblingsorten im Kiez. Sie wohnt nur ein paar Meter entfernt davon und hat diesen Ort zu einem Nachbarschaftstreff unter freiem Himmel gemacht. Sie ist bekannt hier, das merkt man sofort. Mindestens zehn Mal grüßt sie während des Interviews Leute, die gerade vorbei laufen. Bei unserem Gespräch dabei ist Quartiersmanagerin Clara Lehmann, die vor kurzem Sedanurs Geburtstag mit gefeiert hat. Das kleine Fest fand auf dem Akademieplatz statt, doch zu dem kommen wir später.
Nach "Bolle" war lang noch nicht Schluss
Vom Brunnen her kennen viele die patente Moabiterin, die aus der Türkei stammt. Seit etwa acht Jahren sitzt sie hier bei schönem Wetter ab und zu zusammen mit anderen Frauen, die zum Teil dort zu Freundinnen wurden, auf aufklappbaren Stühlen und bietet Vorbeikommenden und auch unbekannten Passanten einen Tee an. Ihr Konzept ist denkbar einfach: Jeder aus der Gruppe bringt etwas mit, Tee, Kaffee oder was Kleines zum Essen. Man sitzt zusammen und redet miteinander. Wer gerade vorbei kommt, wird spontan eingeladen. Darunter sind manchmal auch Leute, die hier aus beruflichen Gründen vorüber eilen, denn das große Gerichtsgebäude ist ja nicht weit. „Einem Anwalt oder Richter in seiner Robe habe ich schon Tee angeboten“, erinnert sich Sedanur. Aber der rief nur „keine Zeit, keine Zeit“. Apropos Zeit: Die 68-jährige, die einen Großteil ihres Berufslebens, fast 30 Jahre, im Verkauf beim Supermarkt „Bolle“ verbrachte, hat auch im Ruhestand alle Hände voll zu tun. Sie hilft türkischstämmigen Menschen, die die deutsche Sprache nicht gut genug beherrschen, dabei, Behördenbriefe zu übersetzen und begleitet sie zum Arzt, Konsulat oder Amt. Wenn sich, wie neulich, eine ältere Dame bei ihr meldet, die sich vereinsamt fühlt, dann wird sie kurzerhand eingeladen, bei Sedanur und ihrer Gruppe zum Tee dazu zu stoßen. Helfen liegt der Berlinerin mit türkischen Wurzeln, die jedes Jahr die Sommermonate in ihrer alten Heimat verbringt, am Herzen.
Die Netzwerkerin mit Herz
Neben der konkreten Ansprache auf der Straße - Sedanur „netzwerkte“ schon, da gab es dieses Wort dafür noch nicht - ist sie Mitglied im Quartiersrat und in der Aktionsfondsjury von Moabit-Ost. Zudem engagiert sie sich in der Seniorenvertretung Mitte. Sie ist für Menschen da, die Hilfe brauchen, und nicht nur für die. Sie macht auch gern bei der Pflege von Grünanlagen mit, zum Beispiel wenn es um die dürstenden Straßenbäume im Sommer geht. „Danke, lieber Mensch, dass Du mir Wasser gibst, denn ich habe auch Durst“, sprach sie mal versteckt hinter einem großen Mann stehend, der gerade einen Baum goß. „Der Mann drehte sich erschrocken um, sah mich und lächelte mich dann an“, erzählt sie. Und Clara Lehmann ergänzt voller Bewunderung, dass sie einmal Zeugin wurde, als Sedanur spontan ein paar halbwüchsige Bengel zum Gießen ermunterte und die auch prompt dabei mithalfen.
Sedanur meldet kapputte Gehwege und die werden repariert
Keinen Erfolg hatte sie leider, als sie bei der Polizei in der Perleberger Straße anregte, die dortigen Wassertanks zum Bewässern der vertrocknenden Bäume zu nutzen. Kinder in der Pritzwalker Straße zum Müllaufsammeln zu animieren, das klappte gut. Und natürlich ist da ihr großes Engagement für die Barrierefreiheit im Kiez. Wobei sie selbst das so Hochgestochen nie ausdrücken würde. Bei ihr geht es ganz praktisch und konkret um lockere Bodenplatten, die eine Gefahr darstellen, darüber zu stürzen und hinzufallen. Sedanur meldet solche Dinge, wenn sie sie entdeckt, den Polizeibeamten, wenn gerade einer in der Nähe ist. So konnte Kapputtes an mancher Stelle schon schnell und unbürokratisch repariert werden. „Manchmal fallen mir drei oder vier solcher Sachen an einem Tag auf.“ Die Bürokratie findet sie oft anstrengend, und sehr bedauert sie, dass die von ihr angeregten Überdachungen für Sitzecken von den Behörden bisher abgelehnt wurden.
Eine Kiezmutter á la Klara Franke?
Für ihr vielfältiges ehrenamtliches Engagement bekam Sedanur schon Ehrungen wie den den „Moabiter Wecker“ und 2018 den Klara-Franke-Preis. Dieser Preis wird seit 2000 an Aktive im Kiez verliehen und geht auf Klara Franke (1911-1995) zurück. Die Kiezmutter der Lehrter Straße sagte: „Wenn Du was erreichen willst, musst Du den Politikern auf die Füße treten!“ Sie trat aktiv für Benachteiligte und für eine gute Nachbarschaft ein. Klara Frankes Motto könnte so ähnlich auch für Sedanur Karaça gelten. So wie Klara Franke ist sie seit vielen Jahren in ihrem Kiez eine feststehende Größe. Sedanur kam 1967 mit 14 Jahren nach Deutschland und lebte zunächst in der Nähe von Köln, bevor sie durch verwandtschaftliche Bande nach Berlin kam. Von Anfang an war ihr ganz wichtig, Deutsch zu lernen und nach einem halben Jahr im neuen Land konnte sie sich gut verständigen. Mit ihrem Mann war sie 25 Jahre verheiratet, das Paar bekam zwei Kinder. Nach der Scheidung, bei der ihr deutsche Freunde halfen, konnte sie zunächst in deren Wohnung wohnen. Durch viel Glück bekam sie ihre eigene Wohnung in der Pritzwalker Straße.
Mitmischen in den Gremien
Durch Sven Kirschke von der Kontaktstelle PflegeEngagement kam sie als Mitglied der dort angesiedelten Sport-Selbsthilfegruppe für Türkischstämmige zur Seniorenvertretung von Mitte. Die Seniorinnen und Senioren in dem Gremium arbeiten ehrenamtlich für ältere Menschen auf der Grundlage des Berliner Seniorenmitwirkungsgesetzes. Ihr Engagement ist unabhängig, parteipolitisch neutral und konfessionell ungebunden. Wenn die rund 20-köpfige Gruppe einmal im Monat im Rathaus Tiergarten tagt, bringt Sedanur neben den Themen und Problemen der Nachbarschaft rund um die Pritzwalker Straße besonders die Sorgen und Nöte von türkischstämmigen Älteren in Moabit zur Sprache. Als Quartiersrätin im Quartiersrat Moabit-Ost entscheidet sie mit, wenn es um die Finanzierung von Projekten im Kiez geht. Gern erinnert sie sich an vergangene Aktionen wie die mit dem Leierkastenmann, der durch die Straßen ging und musizierte, an das jährliche Suppenfest und an die Bepflanzungsaktionen vor der Türkischen Tagespflege. Bei den kommenden Quartierswahlen Ende August kandidiert sie für die Aktionsfondsjury.
Sie engagiert sich auch in der Türkei
Wenn gewählt wird, ist sie gerade in der Türkei. Auch in ihrer alten Heimat, einem 2.000-Seelen-Ort in der Nähe der Kreisstadt Isparta in Taurusgebirge, mischt sie sich ein, wenn es um Verbesserungen für die Bewölkerung geht. Sedanur setzte sich bei einem hochrangigen Politiker so sehr für die Befestigung einer staubigen Straße ein, dass sie schließlich asphaltiert wurde. In diesem Zusammenhang gab es den Vorschlag, sie zur Bürgermeisterin der kleinen Gemeinde zu wählen. Doch das ist nicht ihr Ding, zu sehr möchte sie auch wieder nach Berlin. Grundlagen für ihren Mut, den Mund aufzumachen und sich zu engagieren, sieht sie in ihrer Kindheit: „Mein Vater erzog mich frei. ‚Was die Leute sagen‘, das gab’s nicht für ihn.“ So ist es für sie selbstverständlich, mit Gewohnheiten zu brechen und - anders als die meisten anderen Frauen im Ort - gemeinsam mit den Männern im Kaffeehaus einen Tee zu trinken und zu diskutieren. Wie sie so treffend sagt: „Wir sind acht Milliarden Menschen, daher gibt es acht Milliarden Fragen und acht Milliarden Antworten.“
Treffpunkt Akademieplatz
Gedanklich wieder zurück in Moabit wünscht sich Sedanur ein paar frei zugängliche Sportgeräte, an denen man sich, auch ohne großen Geräuschpegel, körperlich fit halten kann. „So wie es sie im Fritz-Schloss-Park gibt - das wäre schön hier in der Pritzwalker.“ Dass sie selbst ganz fit ist, demonstriert sie uns dann beim Wasserpumpen. Danach spazieren wir hinüber zur Turmstraße, wo sich in Sichtweite des Gerichtsgebäudes und etwa gegenüber vom Restaurant „Honiggelb“ und dem polnischen Lebensmittelladen der Akademieplatz befindet. Er heißt so, weil es sich um den Vorplatz der Verwaltungsakademie handelt. Heute ist der Platz leer, doch Sedanur schreitet ihn mit tänzerischem Schritt ab und erzählt dabei begeistert davon, wie sie sich hier an manchen Tagen mit Bekannten zum Tee trifft. Den Rahmen für diese Treffen bietet das QM-geförderte Projekt „Wir in Moabit - Gemeinsam gesund Älterwerden“„Wenn Ihr noch ein paar Stunden Zeit habt, könnt Ihr mit dabei sein, denn wir treffen uns heute Nachmittag hier“, sagt sie und spaziert davon.
Sie möchten auch mitmischen?
Wenn Sie wissen möchten, wer neben Sedanur Karaça für den Quartiersrat und die Aktionsfondsjury von Moabit-Ost kandidiert, oder sich selbst bewerben möchten - alle Informationen zu den anstehenden Quartierswahlen erhalten Sie hier
Text & Fotos: © Gerald Backhaus 2021