Künstlerische Vielfalt für und mit der Nachbarschaft
Interview mit dem S9KOLLEKTIV im Stephans
von Gerald Backhaus
Ein sonniger Herbsttag, die Tür ist angelehnt, heraus dringt frohes Geplauder. Ein Interview-Ortstermin im Nachbarschaftsladen Stephans in der Stendaler Straße 9, wobei das eine Art Wortwitz in diesem Zusammenhang darstellt, doch zum gleichnamigen Moabiter Festival „Ortstermin“ später mehr. Alle sind schon vor dem Reporter erschienen. Am großen Tisch sitzen sieben Frauen und zwei Männer, drei weitere Mitglieder des Kollektivs konnten nicht kommen. Sie alle beschäftigen sich mit Kunst. Dabei ist die Palette der vertretenen Sparten sehr groß: von Malerei und Fotografie über Bühnenbild und Textilkunst bis hin zu Installation, Poesie und Klangkunst. Helen Schmidt um Beispiel fotografiert und kreiert Installationen. Seit März 2023 ist sie in dieser Gruppe. Wer darüber gerätselt hat: der Name „S9“ ist eine Abkürzung und stammt vom Ort Stendaler Straße 9. Hier gründete sich das Kollektiv im Mai 2022 auf Initiative von Marie Lou Honert.
Marie Lou Honert
Die junge Frau, die 2021 nach Berlin und hier nach Moabit zog, beschäftigt sich sowohl mit Malerei als auch mit 3-D-Modellen und Videos. Inhaltlich bewegen sie besonders Klima- und Geschlechter-Themen. „Körper und das Innere des Menschen im Speziellen“ sind ihr ganz wichtig. Auf Instagram ist sie unter @marielou.honert zu finden.
Kulturcafé „10 Stationen durch die Welt der Kunst“
Und schon reden wir über eine Veranstaltungsreihe namens „10 Stationen durch die Welt der Kunst“, bei der sich jedes einzelne Mitglied der Künstlergruppe der Nachbarschaft mit einem Impulsvortrag zu einem selbstgewählten Thema vorstellte. Träger dieser Reihe war der Moabiter Ratschlag e.V. Im Anschluss an die Vorträge tauschten sich die Künstlerinnen und Künstler mit den zahlreich erschienenen Gästen über das Thema und darüber hinaus aus. Gemeinschaft, Inspiration, Erfahrung, Spaß und Austausch steht für das S9KOLLEKTIV ganz weit oben. Unter dem Motto „Wir machen Programm!“ ist Kunst auf Augenhöhe das Ziel bei ihren „Kulturcafés“, die die Gruppe von Januar bis Juni etwa aller zwei Wochen veranstaltete. „Kunst und Aktivismus“ etwa hieß die zweite Station dieser Veranstaltungsreihe, zu der das Kollektiv S9KOLLEKTIV im Februar eingeladen hatte. Damals stellte Marie Lou „verschiedene aktivistische Künstlerinnen“ vor. Zuvor hieß es im Januar „Bitte einsteigen!“ Da wurde als Auftakt ein „0-Euro-Ticket“ ausgegeben und dann erfolgte eine festliche Abfahrt mit Essen, Trinken, Musik, Kunst und Kennenlernen über 10 Stationen in die Welt der Künste.
Ein Aushang im Stephans war der Auslöser
Marie Lou Honert hatte, als sie nach Berlin gezogen war, ganz frisch in Moabit nur wenige Kontakte. Um das zu ändern, kam sie auf die Idee, mit Hilfe eines Aushang im Schaukasten vom Stephans unter dem Motto „Wer zeichnet gern zusammen?“ Gleichgesinnte in der Nachbarschaft zu suchen. Daraufhin meldeten sich einige Leute und so formierte sich das S9KOLLEKTIV. Die Fotografin Helen Schmidt stammt aus Bayern und lebt seit 20 Jahren in Moabit. Ein Überblick über ihr Werk - von Straßenfotografie, Fotografik, Fotografie und Haiku sowie Fotoinstallation - findet man auf ihrer Webseite hschmidtfinearts.wordpress.com Sie kam über eine Freundin zu einer Vernissage des Lichtkünstlers Max Reinholz. Der wiederum nahm sie mit zu S9 ins Stephans. Max sitzt neben Helen. Der Regionalentwickler, der seit fünf Jahren in Berlin lebt, beschäftigt sich als Künstler mit „illuminierter Kunst“. Einen guten Eindruck davon kann man sich auf seiner Webseite www.illuva.de verschaffen. Mit seinem Projekt „8 Kubikmeter fördern Phantasie zu Tage“ lud er beim Kunstfestival „Ortstermin“ zu Raumwanderungen durch Moabit ein.
Im Bereich des poetischen Schreibens wirkt die Künstlerin Brigitte Windt. Seit 17 Jahren lebt und arbeitet sie in Moabit und bezeichnet sich als „schreib- und zeichenvergnügt.“ Gesichtern und Köpfen gilt ihr besonderes Augenmerk. 125 Zeichnungen mit Köpfen hängen in ihrem Atelier „und diese kommunizieren untereinander“. Auf ihrer Webseite https://brigitte-windt.de bietet sie unter dem Motto „Mit Schreiben wird es leichter“ unter anderem Texte und Illustrationen zum Selbstständigsein in Berlin. Und ihren „SchreibRaumBerlin“ bezeichnet sie als „Raum für kreatives Schreiben, Zeichnen und Sprechen in Berlin“. Sie bietet regelmäßig Kurse für die Gestaltung von Leporellos an und alljährlich fürs Kreative Schreiben das beliebte 30-tägige „Schreiben im November“. Mehr auf https://schreibraum-berlin.de und https://www.balthasart.com/de/künstler/brigitte-windt
Umberto Freddi, der Mann im gelben Pullover, strahlt über das ganze Gesicht, als er davon erzählt, dass er auch über den Aushang von Marie Lou 2022 zur Gruppe S9 stieß. Umberto arbeitet unter anderem als Architekt, Innenarchitekt und Bühnenbildner, zuletzt für ein zeitgenössisches Tanzstück am Hebbel-Theater. Das besuchten auch einige Kollektivmitglieder, um sein Werk kennenzulernen. Er liebt Farben ganz besonders. Bei seinem Vortrag im Rahmen der Kulturcafé-Veranstaltungsreihe ging es dementsprechend um „Farbe in Leben und Kunst“. Mehr von ihm kann man auf www.adw1600.com und bei Instagram @umbertofreddi entdecken.
Das S9KOLLEKTIV beim Kunstfestival "Ortstermin"
In früheren Jahren beteiligte sich Umberto Freddi allein am Moabiter Kunstfestival „Ortstermin“, bis 2022 die Idee aufkam, das zusammen als Gruppe zu machen. Im September 2023 konnte man im Rahmen von „Ortstermin“ an drei Tagen im Stephans zu Gast beim S9KOLLEKTIV sein. Man konnte sich kunstvolle Kaftane oder „Gemäldekleider“ anziehen und damit einen Rundgang durch die Gruppenausstellung mit ihren 10 Stationen machen. Keine Schwelle, keine Berührungsängste für die Menschen aus der Nachbarschaft, „alles war anfassbar!“ Und „alles war miteinander verbunden“, schwärmt Umberto. Ohne große Abstimmung untereinander, passte vieles einfach sehr gut zusammen: „Es war ein Schatz, der da zum Vorschein kam“. Das konnte vermutlich nur deshalb so gut gelingen, weil sich die Gruppe jeden Monat trifft. Und nicht nur im Stephans: „Wir teilen unsere Leben und besuchen uns gegenseitig.“
Wer am „Ortstermin“-Wochenende vorbei kam, konnte sich auch selbst an den Webstuhl setzen und mitweben. Das Ergebnis ist sehr schön geworden und ein Gemeinschaftsprodukt der Nachbarschaft. Es hängt an der Wand hinter Hanna Perla Niebermann, der betreuenden Künstlerin am Webstuhl beim „Ortstermin“. Sie stammt aus einem Schweizer Bergdorf und lebt seit 2008 in Berlin. Seit 2017 ist sie selbständig als Handweberin. 2013 lernte Hanna Perla die Stabdoppelgewebe-Technik bei Weberinnen in Polen, berichtet sie begeistert, und auf der Hallig Süderoog erarbeitete sie Installationen mit Nordsee-Strandgut. Beim Kulturcafé im Stephans ging es an ihrem Abend um „Bildhafte Teppiche“. Mehr zu ihr bei Instagram: @verwebte_ideen
Annegret Hasse lebt seit 2008 in Moabit. Sie stammt aus Ostwestfalen/Lippe und arbeitete bis 2017 in der Pharmaindustrie. In ihren zeichnerischen, malerischen und lithografischen Werken widmet sie sich gern der Landschaft, aus der sie stammt. Doch nicht durch der, sondern natürlich auch ihrem Lebensraum in der Metropole Berlin. Mit ihrem Abend zu „Urban-Sketching Moabit“ (städtischen Skizzen) begeisterte sie dafür, die uns täglich umgebende Umwelt mit Bleistift, Kreide oder Aquarellfarbe festzuhalten. Kontakt über E-Mail: annegret.hasse@t-online.de
Rebecca Himmerich aus Düsseldorf ist Musikerin, Autorin und Künstlerin. Besonders liebt sie es, Musik und Schreiben zu kombinieren. Dies geschieht zum Beispiel in Form von Hörspielen und Podcasts. Als Liedermacherin nennt sie sich Rycca. Mehr auf https://rebeccahimmerich.de
Marie Lou berichtete auch von den drei Mitgliedern des Kollektivs, die beim Interview nicht dabei sein konnten. Katja Oberlintner beschäftigt sich mit Klang- und Videoinstallationen und referierte bei den Vortragsabenden über „Klang als Medium der Kunst“. Nicolas Maierhöfer führte an seinem Abend in „Die Welt der Indie Games“ ein und verlockte einige ältere Damen damit so sehr, dass sie sich bei ihm danach erkundigten, wo sie solche Computerspiele herbekommen. Und der Poet Klaus-Peter Leopold, der seit 30 Jahren in Moabit zu Hause ist, schreibt vor allem Texte über die Natur und über menschliche Beziehungen.
Eine offene Gruppe?
Das S9KOLLEKTIV begann mit 10 Leuten im Jahr 2022 als offene Gruppe. Aktuell wird viel darüber diskutiert, wie offen man bleiben kann, da sowohl die Räumlichkeiten begrenzt sind als auch die Abstimmungsrunden mit noch mehr Personen sicher komplizierter werden würden. Doch kann man den begrenzten Raum im Stephans auch sehr positiv sehen, denn die Beschränkung hilft oftmals der Kreativität auf die Sprünge. Natürlich gibt es, wie immer wenn mehrere Menschen zusammenkommen, auch mal Reibereien. „Wir durchlaufen Prozesse und erleben viel Spontanität“, fasst es Hanna Perla zusammen.
Zukunftsmusik
2024 soll es natürlich wieder eine gemeinsame Ausstellung der Gruppe S9 zum Kunstfestival „Ortstermin“ geben, denn „wir sind ja für die Leute da, die hier wohnen, und möchten ihnen gern künstlerische Impulse geben.“ Es sei hier so gar nichts Abgehobenes wie manchmal in der Kunstszene zu erleben, ergänzt Umberto. Ob eine zweite Staffel der Kulturcafé-Veranstaltungsreihe möglich ist, wird gerade intern mit dem Trägerverein Moabiter Ratschlag und dem Quartiersmanagement Moabit-Ost als Förderinstitution geklärt. Und außerdem gibt es da die Idee eines Gemeinschaftsprojektes, also eines Kunstwerkes, an dem sich alle Gruppenmitglieder beteiligen. „Jeder von uns hat unterschiedlich viel Energie“, so Umberto, dessen Vision für das S9KOLLEKTIV ist, mit Leichtigkeit zu experimentieren und weiterhin „niedrigschwellig für die Nachbarschaft da zu sein.“ Marie Lou ergänzt, dass „wir noch mehr Bezug aufeinander nehmen und als Gemeinschaft sichtbarer werden sollten.“
Lust auf Kunst? Kontakt zum S9KOLLEKTIV bitte per E-Mail an Marie Lou Honert: Honert.ml@t-online.de
Text: Gerald Backhaus
Fotos: Die "Ortstermin"-Fotos stammen von Marie Lou Honert, Max Reinholz und Annegret Hasse, alle Interviewfotos: © Gerald Backhaus 2023