Interview mit Nathalie Dimmer
von Gerald Backhaus
Nathalie Dimmer hatte ein bewegtes Jahr. Ihr spannendes Projekt in der Bruno-Lösche-Bibliothek mit dem Titel “BuKi - Bildung im Kiez" begann im Januar. Kurz nachdem es richtig an Fahrt aufnehmen konnte, wurde es im März durch Corona jäh ausgebremst. Frau Dimmer erinnert sich noch gut an die Woche vor dem ersten Lockdown, als alle Kindereinrichtungen und die Bibliothek schließen mussten. „An einem Tag hatte ich noch eine Kindergartengruppe und am nächsten Tag schon hab ich mein ganzes Material in der Bibliothek zusammengepackt und bin nach Hause gefahren.“ Weil ihr schnell klar wurde, dass sie in absehbarer Zeit nicht in die Einrichtungen zurück kommen kann und vieles nur noch auf digitalem Wege geschehen würde, gestaltete sie ihr Schlafzimmer rasch zu einer Art Studio um. „Ich wollte meine vielfältigen Kontakte nicht abbrechen lassen“, erzählt sie und erinnert sich daran, dass ihr damals die Idee mit den Kiezsteinen kam. Steine aus dem Urlaub in Griechenland holte sie aus dem Keller und bemalte sie zusammen mit ihren beiden Kindern an einem Sonntag und fotografierte die kleinen Kunstwerke im Anschluss. Als sie die Bilder in den sozialen Medien veröffentlichte, gab es dafür viel Lob und Zuspruch. In der Folge gestaltete sie immer mehr Steine und platzierte sie draußen in ihrer Moabiter Wohnumgebung. Das kam sehr gut an bei Groß und Klein: „Ich hatte das zuerst als positives Signal in die Nachbarschaft, als eine Art Geste gedacht.“ Es wurde mit der Zeit dann immer mehr zu dem eigenen Projekt „Kiezsteine - Dein Kiez wird bunt!“. Dieses beinhaltet auch die #Kiezsteine-Gruppe in den sozialen Medien und ist aus dem EFRE-geförderten BuKi-Projekt der Stadtbibliothek Berlin-Mitte hervorgegangen. Diese Gruppe ist in ganz Berlin tätig und möchte „ein Lächeln ins Gesicht der glücklichen Finderinnen und Finder zaubern“. Deshalb sind auch alle dazu aufgerufen, mit Stiften und Farben selber mitzumachen. Nathalie Dimmer legte inzwischen hunderte Steine aus. Nach ein paar Stunden sind sie meist verschwunden, berichtet sie. Das bedeutet, dass sie in glücklichen Finderhänden gelandet sind und zu Hause jemanden erfreuen. Die Idee, dass die bemalten Kiezsteine fotografiert und auch ins Internet gestellt werden, funktioniert nur begrenzt. Doch ist das nicht schlimm, findet sie, denn ihr Ziel, anderen Menschen uneigennützig Freude zu schenken, geht in Erfüllung. Da Berlin keine Stadt ist, in der geeignete Steine einfach so herumliegen wie anderswo, gießt Nathalie Dimmer mittlerweile Betonsteine. Sie hat die Kiezsteine auch stärker an die Zielsetzung ihres Projekts angepasst. Dazu gehört das Steinalphabet oder sie schreibt Märchen auf Steine, was bei den Kleinen in den Kindereinrichtungen sehr gut ankommt.
Vielen in Moabit ist Nathalie Dimmer gut bekannt durch das Projekt „Lesen erleben in Moabit“, kurz LeMo, das sie drei Jahre lang bis Mitte 2019 betreute. In diesem Rahmen besuchte sie Kindertagesstätten und Grundschulen und regte dort die Kinder u.a. zum konzentrierten Zuhören und Selber-Lesen an. Die gebürtige Luxemburgerin, die aus einer Gastronomenfamilie stammt und in Berlin manchmal das dort verbreitete „Zelebrieren des Kulinarischen“ etwas vermisst, kam 2001 wegen der Liebe und zum Studium an der FU in die deutsche Hauptstadt. Ihre Fachrichtungen waren Filmwissenschaft und Publizistik. Nachdem sie zunächst in Kreuzberg und dann in Charlottenburg wohnte, zog sie 2004 nach Moabit und fühlt sich hier inzwischen pudelwohl: „Ich bin eine Moabiterin.“ Nathalie Dimmer arbeitete für die Zeitschrift „Ecke Turmstraße“, wodurch sie ihr Wohnumfeld noch genauer kennenlernte, und baute die Wanderkinoinitiative “Kino für Moabit” mit auf. Das ist ein Projekt, das sich mit seinen Filmvorführungen in Lokalen, Läden und kulturellen Einrichtungen für eine Erneuerung der Filmkultur im Stadtteil einsetzt. Seit vier Jahren ist sie beim Moabiter Ratschlag e.V. angestellt und betreut für diesen sozialen Träger mit zuerst „LeMo“ und aktuell „BuKi“ die Projekte der Sprachbildung und Leseförderung, die in der Bruno-Lösche-Bibliothek angesiedelt sind. Die Förderung der Lesefähigkeit und die Entwicklung von Medienkompetenz von Kindern liegt Nathalie Dimmer sehr am Herzen. Der neue dafür angestrebte Ort - ein ausrangierter weißer Bibliotheksbus - stand bis vor kurzem auf dem Hof der Bücherei. Die Idee, ihn schnell mit etwas dekorativer Gestaltung aufzupeppen und für Kindergruppen begehbar zu machen, war leider nicht umsetzbar. Da der Bus als offizieller Raum der Bibliothek einigen Vorschriften genügen muss, wird er aktuell für „BuKi" von einer Firma entkernt und umgebaut. Wenn er im Frühjahr 2021 fertig ist, bietet er auf einer Sitzfläche rund 15 Kindern Platz, so dass dort in einem geschützten Wohlfühl-Raum, in dem es gemütlich und kuschelig ist, z.B. vorgelesen werden kann. Vorausgesetzt, dass das dann in der Zeit „nach Corona“ wieder möglich ist. Auch soll der Bus immer in Bewegung sein, was bedeutet, dass Nathalie Dimmer mit dem Gefährt auf Achse sein wird und zu Kindereinrichtungen hinkommt.
Die offene Arbeit mit Kindern, die Nathalie Dimmer so liebt, ist schwer zu verwirklichen, wenn man Abstand halten soll. Eigentlich geht das nicht wirklich, denn Nähe und Vertrauen einerseits und Abstand andererseits widersprechen sich.
Ein besonderer Höhepunkt in diesem Jahr waren die Veranstaltungen rund um das FestiWal auf dem Ottospielplatz. Dort hatte sie zusammen mit Kathrin Syperek, die eine ähnliche Arbeit in der Kurt-Tucholsky-Bibliothek von Moabit-West leistet, ein Lesezelt errichtet. Dort und vor allem davor im Freien gab es Vorlesen und andere Aktionen. In den Monaten vor September, als sie keine Kindergruppen in der Bibliothek anleiten und nicht in die Kindergärten gehen durfte, war es besonders schwer für Nathalie Dimmer, eine Frau, die im direkten Austausch mit den Familien so aufgeht. Als alle Einrichtungen geschlossen waren, gab es als Lichtblick einen Kindergarten, der sie beim Online-Morgenkreis zuschaltete. Da las sie dann den Kindern eine Geschichte vor und war dadurch präsent. Acht Stunden pro Woche gab sie damals Hausaufgabenhilfe am Telefon. „Manche Kinder waren verzweifelt, bekamen von der Schule einen Ordner voller Aufgaben und sollten die nun in teilweise beengten Wohnverhältnissen allein bewältigen. Bei ihnen leistete ich in vielen Fällen so etwas wie Erste Hilfe.“
Aktuell sind die Kinder wieder in den Schulen und Einrichtungen, doch darf sie aufgrund der Auflagen als „Betriebsfremde“ nicht zu ihnen. Ihnen nur Bücher und andere Medien hinzubringen, empfand sie als „zu wenig Konzept“ und überlegte sich als neues Format drei Themenboxen. So bezeichnet sie kleine thematische Einheiten, die nicht nur die Kinder erfreuen, sondern mit denen die Erzieherinnen auch ohne ihre Präsenz vor Ort gut arbeiten können. Eine Themenbox mit dem Titel „Tiere der Nacht“ beinhaltet Steine, die mit fluoreszierenden Farben bemalt wurden und im Dunklen leuchten, sowie ein Büchlein und Rätselfragen. Die Resonanz ist sehr gut, freut sich die Initiatorin. Und sie wird diese Konzeptarbeit auch später in ihre Angebote im Bus integrieren. Apropos Konzept, zu ihren konzeptionellen Eckpfeilern gehört das implizierte Lernen. Das bedeutet so viel wie Fähigkeiten und Fertigkeiten zu lernen, ohne dabei zu bemerken, dass man gerade etwas lernt. Dazu hat Nathalie Dimmer Minibücher entwickelt, an die sich Kinder noch nach Jahren erinnern. Zusammen mit dem Team der Lösche-Bibliothek hat sie einen digitalen Adventskalender entwickelt, der hier: https://www.facebook.com/stb.mitte und hier https://www.instagram.com/stbmitte/ zu finden ist. „Das war eine Menge Arbeit, aber auch hier wollten wir unbedingt ein positives Signal senden. Das Schönste an ihrem Beruf sind die Beziehungen zu den Eltern und Kindern, die sie über die Jahre ihrer Arbeit in der Bibliothek und den Einrichtungen aufgebaut hat. „Ich kenne den Stadtteil gut, bin hier vernetzt und trage viel an Informationen direkt an die Familien heran.“ Verlässlich vor Ort zu sein, findet sie ganz wichtig. Das hat zur Folge, dass sie viele, wenn sie irgendwo hinkommt, schon kennen. „Dann müssen keine Hemmungen mehr abgebaut werden, und wir können gleich loslegen.“
Mehr Informationen zum BuKi-Projekt gibt es hier
Mehr zur Bruno-Lösche-Bibliothek erfahren Sie auch in unserem Artikel vom Februar 2020
Kontakt zu Nathalie Dimmer, Moabiter Ratschlag e.V., Bruno-Lösche-Bibliothek, Perleberger Straße 33, 10559 Berlin , Tel.: (030) 9018-33001, Fax: (030) 9018-33010, E-Mail: Nathalie.Dimmer@ba-mitte.berlin.de Geöffnet ist die Bibliothek montags bis freitags von 10 bis 19.30 Uhr, samstags von 10 bis 14 Uhr.
Text: Gerald Backhaus, Fotos Kiezsteine: Nathalie Dimmer, Fotos Bibliothek und Bücherbus: Gerald Backhaus, Foto mit Nathalie Dimmer: Katrin Syperek