Die Wohnungslosenunterkunft in der Lübecker Straße
Hausleiter Marcus Giggel
Marcus im Büro mit seiner Kollegin
Dagmar Bubolz
Blick in eine der Etagenküchen...
...wo sich die Meerschweinchen gerade nicht blicken lassen. Fotoscheu?
Marcus im Gespräch mit dem Mann von der Pforte

Ein Haus wie jedes andere? Nicht ganz. Marcus Giggel und die Wohnungslosenunterkunft in der Lübecker Straße

von Gerald Backhaus

Ein Haus wie jedes andere ist das um 1970 eingeweihte Gebäude nicht, doch wissen viele in der Nachbarschaft nicht, was genau sich hinter der Fassade verbirgt, erzählt Hausleiter Marcus Giggel im Büro in der ersten Etage. Dort ist beim Interview auch seine Kollegin Dagmar Bubolz anwesend, die ab und zu etwas ergänzt.

Wer übernimmt die Kosten einer Unterkunft?

In dem Gebäude Lübecker Straße 6 leben aktuell 68 Menschen, darunter 56 Männer und 12 Frauen. Was sie alle eint? Sie sind wohnungslos, also nicht obdachlos, denn sie haben hier ja ein Dach überm Kopf. Doch eine eigene Wohnung können sich die meisten von ihnen nicht leisten. Einige könnten es schon, was für mich eine ganz neue Information ist. Ja, es gibt hier auch Selbstzahler, die auf dem Wohnungsmarkt aber keine Chance auf eine Wohnung haben, weil sie bei den Vermietern z.B. durch Schufa-Einträge durch’s Raster fallen. Doch der Reihe nach: Die Unterbringung und Betreuung von Menschen in besonderen Lebenslagen, wie sie die Berliner Wohnforum GmbH hier in einer landeseigenen Immobilie in Moabit-Ost anbietet, folgt einem gewissen Prozedere. Normalerweise meldet sich jemand, der keine Bleibe hat, bei der „Sozialen Wohnhilfe“ im Bezirksamt. Dort wird nachgeschaut, wo ein Platz oder ein Zimmer frei ist. Ein Männerplatz im Einzelzimmer? Geht nicht immer, manchmal ist nur ein Bett in einem Drei-Bett-Zimmer frei. Ganz wichtig ist, wer die Kosten für die Unterbringung in Höhe von aktuell 26,78 Euro pro Tag bei Einzelzimmern, bei Doppelzimmern 14,74 Euro und bei Drei-Bett-Zimmern 13,26 Euro übernimmt. Das sind rund 830 Euro pro Monat. Besteht Anspruch auf Transferleistungen (ALG II oder Sozialhilfe), dann übernimmt das die Kommune. Im Falle von Berlin ist das der jeweilige Bezirk. Von den 68 Bewohnerinnen und Bewohnern in der Lübecker Straße zahlt rund ein Viertel selbst für die Unterkunft. Komplette Selbstzahler gibt es sehr selten, die meisten der 18 Personen beteiligen sich an den Unterbringungskosten je nach ihren Einnahmen. Manch einer erhält Altersrente, manch eine geht voll arbeiten. Die Höhe der Beteiligung richtet sich also nach den eigenen Einnahmen.

Vielfältige Gründe führen zur Wohnungslosigkeit

Wie kann das sein, dass jemand arbeitet und trotzdem hier wohnen muss bzw. darf? Marcus berichtet von drei Berufstätigen, die hier wohnen. Sie arbeiten bei einer Behörde, einem großen Konzern und im Sozialbereich. Sie könnten sich eigentlich eine eigene kleine Wohnung leisten, bekommen aber keine, weil sie z.B. verschuldet waren und „eine miserable Schufa“ haben. Die hier Wohnenden kann man sich als sehr heterogene Truppe vorstellen. Vom 18jährigen bis zum Rentner ist alles dabei. Zwei Drittel sind Deutsche, der Rest ist von den Herkunftsnationen her bunt gemischt. Die Zahl der Suchtkranken und psychisch Kranken hat in den letzten Jahren zugenommen, oftmals besteht eine Doppeldiagnose. Es gibt Menschen, die direkt von der Straße kommen, also vorübergehend obdachlos waren. Die Gründe dafür sind vielfältig. Es kann an Einschnitten in der Biografie wie eine Trennung oder der Tod der Mutter liegen. Zu der daraus resultierenden emotionalen Schieflage kommen in manchen Fällen Alkohol und Drogen hinzu. All das kann einen aus der Bahn werfen. Verliert man die Wohnung und damit die Meldeadresse, kann man, auch wenn man in Lohn und Brot steht, schnell aus dem Berufsleben fallen. Keine Meldeadresse zu haben, ist zwar kein Kündigungsgrund, berichtet Marcus, "aber ohne Meldeadresse kann kein Arbeitsvertrag ausgestellt werden und ohne Arbeitsvertrag stehen meine Chancen auf dem Wohnungsmarkt sehr schlecht." Was daraus resultiert, ist ein Teufelskreis: Ohne Meldeadresse kein Job, ohne Job kein Geld für Miete und dadurch keine Meldeadresse.

Drei Mal Duschen pro Woche - von Hausordnung und Hygienekontrollen

Wer einmal in einem Studentenwohnheim gewohnt hat oder dort jemanden besuchte, kann es sich etwa vorstellen. Es gibt Etagen für Männer und Etagen für Frauen. Sein Zimmer darf man nicht verändern. Also keine eigenen Möbel mitbringen, und die Wände unabgesprochen mit Farbe selbst zu streichen, würde als Vandalismus gewertet. Einen Duschbereich gibt es für jeweils zwei Parteien, was gegenüber den Massenduschen in anderen Unterkünften einen großen Vorteil darstellt. In jedem der 15-qm-Zimmer steht ein Kühlschrank. Außerdem wird eine Grundausstattung bestehend aus Bettwäsche, Geschirr und bei Bedarf auch Klamotten aus der Kleiderkammer zur Verfügung gestellt. Gemeinsam mit den anderen teilt man sich die Etagenküche. Dort kann gekocht werden bis zum Einsetzen der Nachtruhe um 22 Uhr. Sich nachts etwas zu kochen, geht also nicht. Das ist wie einiges andere auch in der Hausordnung festgelegt. Hausordnung? Ja, die verbietet hochprozentige Spirituosen und schreibt auch vor, dass man sich mindestens drei Mal pro Woche duscht. Nachts sind keine Besuche erlaubt, Schlafgäste sind Tabu. Monatlich werden Hygienekontrollen in den Zimmern durchgeführt. „Die Gemeinschaft muss funktionieren“, so Marcus, „und das tut sie mit diesen Regeln auch gut.“ Das Berliner Wohnforum bietet in seinem Moabiter Haus mit den vier bewohnten Etagen die Organisation der dauerhaften Unterbringung an, offiziell gibt es keine Sozialbetreuung. Eine Sozialstelle für das Haus wird vom Amt nicht bezahlt, was Marcus bedauert. Doch bieten er und sein Team trotzdem drei Mal pro Woche eine Sprechstunde für die Anliegen der Bewohnerschaft an.

Marcus' Weg zum Hausleiter

Einmal Sozialarbeiter, immer Sozialarbeiter. Marcus ist Jahrgang 1989. Er stammt aus einem 400-Seelen-Dorf in Sachsen-Anhalt, fast auf halber Strecke zwischen Berlin und Hannover. Stendal heißt die nächste größere Stadt.  Er studierte zunächst Maschinenbau in Magdeburg, wechselte dann aber zum Studium der Sozialen Arbeit nach Dortmund. Sein Schwerpunkt dort war die berufliche und soziale Rehabilitationspädagogik. 2015 zog er nach Berlin und hatte zwischen dem Bachelor und seinem Arbeitsantritt beim Berliner Wohnforum exakt drei Tage Pause. Zunächst arbeitete er in einer Flüchtlingsunterkunft in Charlottenburg, wo er auch ein halbes Jahr lang stellvertretender Hausleiter war. Später wurde er in eine Wohnungslosenunterkunft nach Lichtenberg versetzt und übernahm dort die Hausleitung. „Das war ein Mammutprojekt für einen Berufsanfänger wie mich“, erinnert sich der inzwischen 32jährige, „und gleichzeitig der Auslöser für ein weiteres Studium.“ Berufsbegleitend begann Marcus vor drei Jahren mit dem Sozialmanagement-Studium und schreibt derzeit an seiner Masterarbeit. Darin evaluiert er die Supervisionsangebote in der Firma. Das Berliner Wohnforum bietet seinem Personal Beratungen an, um es zu fördern. Diese Termine sollen im oftmals stressigen Alltag auch entlastend wirken. „Das geht in Richtung Coaching“, so Marcus, der untersucht, ob diese Supervisionen die versprochene Wirkung erzielen. Im Mai 2020 wurde er Hausleiter in dem Objekt in Moabit. Es gefällt ihm hier gut und er ist viel entspannter, u.a. weil er durch mehr Berufserfahrung und das Studium inzwischen viel mehr Sicherheit bei seinen Entscheidungen erlangt hat.

Wie lang jemand hier lebt?

Schwer zu beantwortende Frage. Im Idealfall wohnt man hier für ein paar Monate und findet dann eine eigene Wohnung. Doch für viele ist das Haus in der Lübecker Straße ein Zuhause für immer. Aktuell liegt der Altersdurchschnitt zwischen 55 und 60 Jahren. „Wir sind ein alternatives Seniorenheim“, lacht Marcus, für den viele hier altersmäßig die Eltern sein könnten. Er kooperiert mit einem Pflegedienst, der seit 11 Jahren täglich ins Haus kommt und aktuell 10 Menschen betreut. Außerdem hält mit Dr. Christoph Schuler aus der Turmstraße ein Allgemeinmediziner mit Zusatzqualifikation im Suchtbereich einmal im Monat seine Sprechstunde vor Ort ab. Das Haus, das als Schwesternwohnheim für das Krankenhaus Moabit gebaut und zuerst als solches genutzt wurde, stand im Anschluss eine Weile leer. Als Wohnungslosenunterkunft besteht es seit mittlerweile 16 Jahren. Sieben Menschen leben bereits seit der Anfangszeit hier. Je älter jemand hier wird, um so unwahrscheinlicher wird für ihn oder sie der Umzug in eine eigene Wohnung. Das würde eine Überforderung bedeuten, wenn man z.B. noch nie selbst einen Mietvertrag und einen Stromvertrag abgeschlossen hat.

Wie ein kleines Dorf

Wohnt man mehr als fünf Jahre hier, dann hat man in der Regel auch sein soziales Umfeld hier. „Die Leute kennen sich untereinander. Wie in einem kleinen Dorf“, erzählt Marcus. Wenn es einem schlecht geht, bleibt das nicht lange verborgen. Außerdem brodelt die Gerüchteküche, wenn einmal Liebesbande geknüpft werden. Mal kurz verreisen geht nicht so ohne weiteres. Urlaub muss genehmigt werden. Bleibt man mehr als 72 Stunden bzw. länger als drei Tage weg, dann verfällt der Platz im Wohnheim und wird an jemanden anderes neu vergeben. Das kann auch passieren, wenn man mal ins Krankenhaus muss. Marcus berichtet von einem Bewohner, der nach 12 Jahren im Haus wegen einer Herzoperation und anschließender Reha drei Monate lang weg war. Dieser Mann hatte großes Glück, er fand danach wieder einen Platz hier im Haus. Die Fluktuation beschreibt Marcus als relativ gering, nur vier bis fünf Leute im Monat wechseln bzw. ziehen neu ein.

Was sich Marcus wünscht?

Barrierefreiheit wäre angesichts der vielen älteren Bewohner wichtig. Nicht nur in den Zimmern und Duschbereichen. Das bis in die 5. Etage belegte Gebäude hat leider keinen Fahrstuhl und ergänzend zu den drei Stufen zum Eingangsbereich wäre eine Rampe ganz praktisch. Was die Nachbarschaft angeht, haben bereits die Hausleitungen vor Marcus damit begonnen, das Haus zum Kiez hin zu öffnen. Seit 2011 ist das Wohnforum im Quartiersrat von Moabit-Ost als „Starker Partner“ präsent und konnten dabei mitwirken, dass z.B. eine Ausstellung zur Geschichte des Hauses organisiert wurde. Die Wohnungslosenunterkunft beteiligt sich am jährlichen Suppenfest und am Perlenkiezfest. Sie brachte die Broschüre „Wie das Leben so spielt“ mit den Lebensgeschichten von Wohnungslosen heraus und ist zudem eine Verleihstation für das Kiez-Kaffee-Fahrrad. Wer das kostenfrei ausleihen möchte, braucht nur das QM-Büro zu kontaktieren, und das gibt dann der Pforte in der Lübecker Straße Bescheid, wer zum Abholen kommt. Auch der Gruppenraum mit Platz für rund 15 Personen kann von externen Organisationen genutzt werden. Dort gab es schon Vorträge der Obdachlosen-Uni, und hier möchte sich, wenn es die Corona-Regeln wieder zulassen, sich die Seniorengruppe des Älterwerden-Projekts "Wir in Moabit" treffen. Marcus möchte die Idee des offenen Hauses in der Zeit nach Corona gern wiederbeleben und viele Aktivitäten zusammen mit der Nachbarschaft anleiern. Eine Idee, die noch in den Kinderschuhen steckt und durch die Pandemie-Einschränkungen zum Erliegen kam, sind Ehrenamtliche von draußen, die z.B. den Bewohnern und Bewohnerinnen beim Papierkram mit den Behörden helfen. Eine schöne Idee, die es weiter zu verfolgen gilt.

Kontakt: https://www.berliner-wohnforum.de Marcus Giggel, Hausleitung, Tel. 030 3984 0140

Text & Fotos: © Gerald Backhaus 2021