Eine Auszeit von der Pflege

Bei einem der Gruppenangebote (Foto: Helmut Wanner)
von rechts: Sven Kirschke und Helmut Wanner im Büro der Kontaktstelle PflegeEngagement Mitte (Foto: Gerald Backhaus)
Sport frei! In der Gruppe macht Bewegung viel mehr Spaß (Foto: Helmut Wanner)
Helmut Wanner und Sven Kirschke (Foto: Gerald Backhaus)

Um eine verbesserte Lebensqualität von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen - Hilfe zur Selbsthilfe - ging es im Gespräch mit Sven Kirschke und Helmut Wanner von der Kontaktstelle PflegeEngagement Mitte 

von Gerald Backhaus

Es gießt wie aus Kübeln, als wir im Gruppenraum der Kontaktstelle PflegeEngagement Mitte in der Lübecker Straße 19 zusammensitzen. An dem großen Tisch treffen sich oft pflegende Angehörige. In Moabit Ost finden vier der aktuell 13 Angebote für Mitte statt, die Kontaktstelle des Trägers StadtRand gGmbH deckt damit den ganzen Bezirk Mitte ab, daher ihr Namenszusatz „Mitte“. Da wäre die Gesprächsgruppe, bei der es um die Pflegeunterstützung von Angehörigen zuhause geht, und die Gruppe „Wohnen im Alter“, die aus einer Zukunftswerkstatt hervorging und Menschen frühzeitig sozial einbinden möchte. Diese Gruppe trifft sich, um ein Wohnprojekt zu initiieren.

Nicht alles passiert in diesen Räumlichkeiten, sondern auch anderswo, wie z.B. die in Kooperation mit der Eigeninitiative im Alter e.V. Im Domizil dieser Initiative findet „Bewegung im Alter“ als Präventivmaßnahme statt, außerdem gibt es als ganz niedrigschwelliges Angebot dort auch Gespräche bei Kaffee und Kuchen. An türkischsprachigen Gymnastikkursen und einem anschließenden Gesprächskreis kann man im Gesundheitsraum der StadtRand gGmbH und des benachbarten Trägers Selbsthilfe Selbsthilfe Kontakt- und Beratungsstelle (SHK) teilnehmen. 

Dort ist alles barrierefrei, damit sich auch Menschen mit Rollator und Rollstuhl beteiligen können. Ob man überhaupt mitmachen kann, liegt oft daran, wie weit weg das Angebot stattfindet. Das bekamen Sven und Helmut schwarz auf weiß: Eine „aktivierende Befragung“ unter Seniorinnen und Senioren ergab, dass sie vor allem wohnortnahe Angebote brauchen. 

Sich einmal eine Auszeit von der Pflege zu nehmen, ist für pflegende Angehörigen ganz wichtig. Die Betroffenen bekommen bei den Selbsthilfegruppen Raum und Zeit, um mit anderen zu sprechen, aber auch Rat und Tat. „Neues Wissen und mal ein Raum für mich, Gleichgesinnte zu treffen und heraus von Zuhause zu kommen,“ bringt Sven es auf den Punkt. Er, dessen Bruder nach sechs Jahren Krankheit an einem Hirntumor starb und von ihm im ersten Jahr im Wechsel mit der Mutter und einem Freund versorgt wurde, weiß genau, wovon er spricht. Viele Angehöriger gehen zu weit über ihre Grenzen. Was ist, wenn sie selbst erkranken? Nicht nur dann, sondern auch bei ganz Alltäglichem wie selbst einmal zum Friseur zu können, geht es um die Frage, ob vielleicht jemand stundenweise Zuhause einspringen kann, ohne dass man dafür gleich etwas bezahlen muss. Bevor dies glückt, also dass man jemanden Geeignetes findet und auch an sich heran lässt, ist viel Vertrauens- und Beziehungsarbeit, z.B. innerhalb einer Selbsthilfegruppe oder durch Ehrenamtliche, gefragt. 

Apropos Ehrenamtliche, rund 25 Frauen und Männer engagieren sich in der Kontaktstelle PflegeEngagement Mitte. Sie werden koordiniert von Sven und Helmut und treffen sich einmal im Monat zum Austausch. Die Ehrenamtlichen werden dabei nicht zu Pflege-Experten, sondern unterstützen Familien und Einzelpersonen in der Pflegesituation, sie übernehmen selbst keine Pflege, sondern helfen mit Gesprächen und durch Kontakt. Das ist ganz wichtig, denn ein gar nicht zu hoch einzuschätzender Punkt ist die Frage, wie man bei einer durchschnittlichen Pflegedauer von sechs bis acht Jahren von nahen Angehörigen der eigenen Isolation entgegen wirken kann. Dabei kann es sehr helfen, sich selbst als Ehrenamtlicher einzubringen, so wie Peter. Er ist schon seit sechs Jahren im Team dabei und hat durch sein Engagement mehr Kontakt zu anderen Menschen bekommen. 

Dass sehr viele Menschen einsam sind, gerade im gehobenen Lebensalter, wurde in Großbritannien kürzlich von der Regierung zum Thema gemacht. In Deutschland ist das kaum anders als in England. Deshalb rief Elke Schilling von der Seniorenvertretung Mitte zusammen mit dem Humanistischen Verband Deutschlands das Projekt „Silbernetz“ ins Leben. Das ist ein Netz für vereinsamte oder isoliert lebende ältere Menschen, denn „knapp zwei Millionen Menschen, die über 80 Jahre alt sind, leben in Deutschland allein. Das Problem wird sich künftig verschärfen“, sagte Elke Schilling in einem Interview. „Silbernetz“ bietet neben einem Soforthilfetelefon auch Freundschaftsdienste an und sieht sich als Bindeglied zu den Angeboten im Kiez. Ähnlich wie Kontaktstelle PflegeEngagement Mitte, die „Silbernetz“ natürlich sehr begrüßt und dem Projekt ein Jahr lang einen kostenfreien Platz in einem Coworking-Space vermittelte. 

Zu den Hauptproblemen derjenigen, die auf die Kontaktstelle PflegeEngagement Mitte zukommen, zählen neben der Einsamkeit die Wohnsituation („Ich muss nach 40 Jahren ausziehen!“) sowie konkrete Situation mit dem Partner oder der Partnerin, der oder die beginnt, dement zu werden. Ein weiteres Thema kann man gut mit dem Satz „Hilfe, meine Eltern werden älter“ beschreiben. „Die Kinder sind 60 oder 65 Jahre alt und fragen sich, ob sie nun - selbst im Rentenalter - verpflichtet sind, ihre hochbetagten Eltern zu pflegen“, erzählt Sven. „Hinzu kommt das Problem der räumlichen Entfernung, z.B. wenn die Eltern weit weg in Westdeutschland leben.“ Und dann gibt es ganz konkrete Probleme, die zu lösen sind: Wie stellt man eigentlich korrekt einen Antrag auf eine Pflegestufe? „Viele fühlen sich verloren in dem Paragrafen-Dschungel“, berichtet Helmut Wanner, „und wir sortieren und vermitteln weiter“. 

Permanent angeboten wird in der Kontaktstelle PflegeEngagement Mitte eine Beratung zur Patientenverfügung. Zu dieser Sprechstunde, die jeden ersten Mittwoch im Monat von 18 bis 19.30 Uhr stattfindet, kommen in der Regel um die acht Personen. Dort erhält man zunächst das Basiswissen. Vertiefende Gespräche zur Patientenverfügung bietet eine Mitarbeiterin der Zentralen Anlaufstelle Hospiz an.

Die Kontaktstelle - Helmut Wanner ist seit Januar 2017 im Boot - wurde 2010 von der Senatsverwaltung für Soziales und den Pflegekassen initiiert. Gleichzeitig eröffneten Büros in jedem der zwölf Berliner Bezirke. Oft sind sie unter dem Dach von Nachbarschafts- und Stadtteilzentren angesiedelt. 

In der Kontaktstelle PflegeEngagement Mitte trifft man auf zwei Männer aus Nord und Süd: während Sven Kirschke in Bremen aufwuchs, stammt der seit 30 Jahren in Berlin lebende Helmut Wanner aus dem Allgäu. Sven wurde nach einer Schlosserlehre zum Krankenpfleger und arbeitete viele Jahre im stationären Klinikbereich, bevor er auf dem zweiten Bildungsweg Pflegewissenschaften und Pflegepädagogik studierte. Auch Helmut Wanner ist von Beruf Krankenpfleger, er studierte Sozialpädagogik.

Patienten in Pflegedienste vermitteln die beiden nicht, sondern arbeiten als Kooperationspartner mit vielen Akteuren zusammen. Darunter finden sich neben dem Bezirksamt Mitte z.B. der Moabiter Ratschlag e.V. und das SOS Kinderdorf in Moabit, außerdem Pflegeanbieter und der Pflegestützpunkt. „Seit 2009 gibt es in Berlin die Pflegestützpunkte. Mit diesen arbeiten wir von Anfang an gut zusammen.“ 2016 wurde der in der Kirchstraße 8a eingerichtet. Die Zusammenarbeit klappt gut, u.a. durch die räumliche Nähe ist er ein wichtiger Partner. „Wir sind ergänzend tätig“, fasst Sven es zusammen, „und wollen pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen dabei unterstützen, selbst Hilfe für sich anzunehmen“. Die Maxime von Helmut Wanner lautet: „Die zweite Tür bei der Beratung muss die Richtige sein“, was bedeutet, dass gerade Menschen, die Hilfe suchen, möglichst gezielt und schnell dahin vermitteln werden sollten, wo ihnen konkret weitergeholfen wird. Genau das versuchen er und Sven jeden Tag. 

Bis 2019 ist die Finanzierung der anderthalb Personalstellen, die sich die beiden Männer teilen, für die Kontaktstelle PflegeEngagement Mitte gesichert. Die Politik sei auf dem richtigen Weg und habe erkannt, dass die Pflege durch den demographischen Wandel immer wichtiger werde. Nach einem Wunsch gefragt, sind sich die Sven und Helmut einig: „Es müsste - Stichwort Wohnortnähe - viel mehr solche Anlaufstellen wie uns geben, also neben uns in Moabit Ost z.B. auch eine in Wedding und am Alexanderplatz. Dass man in maximal zehn Minuten zu Fuß mit dem Rollator hinkommt, das wäre toll.“

Detaillierte Informationen finden Sie auf www.stadtrand-berlin.de