Katharina Mölter beim Interview im November 2024...
...und unterwegs mit ihrem Lastenrad
Auf dem Fruchthof im Großmarkt
Schnittblumen-Rettung
Beim Ausladen
Bei einer "Fairteilung"

Lebensmittelretterin Katharina Mölter von foodsharing.de

von Gerald Backhaus

Wir treffen uns in einem Café nahe der Arminiusmarkthalle. In Sichtweite befindet sich die Stelle, an der Katharina Mölter von der ehrenamtlichen Initiative foodsharing.de Verteilaktionen in der Nähe ihres Wohnhauses durchführt. Die gibt es fast jeden Tag, und natürlich macht das Katharina nicht allein, sondern zusammen mit einigen Mitstreitern. Rund zehn Leute sind der harte Kern in Moabit. Im November 2024 gibt es ein Jubiläum: seit vier Jahren fährt die 35-Jährige fast täglich frühmorgens gegen 7 Uhr in den Fruchthof auf dem Großmarkt an der Beusselstraße, um dort palettenweise Lebensmittel zu retten. Normalerweise geht das mit ihrem Lastenrad, doch ist es sehr nützlich, dass ihr auch Nachbarn mit Autos dabei helfen.

„Manchmal sind wir zu sechst, wir waren aber auch schon 14 Leute vor Ort zur Fruchthof-Abholung, um Lebensmittel im großen Stil zu retten.“

Katharina war schon bei der ersten Abholung auf dem Fruchthof im Jahr 2020 dabei. Wer den Großmarkt nicht kennt, muss ihn sich als „Wochenmarkt XXL“ vorstellen, erzählt sie. Zu den geretteten Lebensmitteln gehören nicht nur, wie der Name Fruchthof suggeriert, Obst und Gemüse. Auch wenn es primär um Lebensmittel geht, gab auch schon Paletten voller Schnittblumen mitzunehmen. Bei einem anderen Kooperationsbetrieb gab es mal Bettgestelle. „Theoretisch retten wir alles, doch ist das nie planbar.“ Auch Waren wie Kaffee, Mehl und Zucker, die wegen eines abgelaufenen Mindesthaltbarkeitsdatums (MHD) im Handel nicht mehr verkauft werden dürfen, sind manchmal bei einzelnen Betrieben darunter.

Gerettet: 1.000 Jahre altes Himalaya-Salz

Sehr Kurioses gab es auch schon unter den geretteten Lebensmitteln, wie z.B. das 1.000 Jahre alte Himalaya-Salz „wegen abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum!“ Katharina erinnert sich daran, dass sie in ihrer Anfangszeit bei foodsharing einmal mit 10 großen Ikea-Tüten voller Kräutersetzlinge nach Hause kam. „Ich stand in unserer Hauseinfahrt und habe die Leute angesprochen, die zufällig vorbei liefen, ob sie etwas davon haben möchten“. Das sei sehr aufwendig gewesen. Vor der nächsten Rettungsaktion gründete sie Chatgruppen auf Messenger-Diensten wie WhatsApp und Telegram, um Interessierte auf diesen Wegen über die jeweilige gerettete Ware schnell informieren zu können.

Wie die öffentliche Verteilung von geretteten Lebensmitteln auf dem Bürgersteig gegenüber vom Haus Bremer Straße 64 funktioniert?

Zur sogenannten „Streetsharing MoHaTi“ - die Abkürzung MoHaTi steht für den foodsharing-Bezirk “Moabit, Hansaviertel und Tiergarten“ - kann man einfach hingehen, also ohne Anmeldung. Die Verteilaktionen finden vor der Jugendverkehrsschule (JVS) statt. Zunächst hatte Katharina Kisten voller Lebensmittel auf den Bürgersteig vor ihrem Haus gestellt und die Chatgruppen darüber informiert. Mit der Zeit fanden sich immer mehr Interessierte von selber morgens gegen 9 Uhr dort ein. Alle, die mögen, sind willkommen. Normalerweise sind es 30 bis 40 Menschen aus der Nachbarschaft. Sie stellen sich bei dieser „geregelten Ausgabe“ im Halbkreis auf, und Katharina und weitere Helfer geben die Lebensmittel aus. Diese Aktion wird auch „Fairteilung“ genannt, weil es dabei fair zugeht. Katharina und die anderen verhindern dadurch, dass sich jemand auf die Lebensmittel stürzt und zu viel für sich mitnimmt, während andere Leute leer ausgehen.

Verteilung immer von Montag bis Sonnabend gegen 9 Uhr und sonntags um 12

Die Verteilaktionen in der Bremer Straße finden von Montag bis Sonnabend gegen 9 Uhr und seit 2024 auch sonntags um 12 Uhr statt. Zu den Sonntags-Verteilungen kommen noch mehr Menschen als werktags. Manchmal sind es bis zu 100, schätzt Katharina. Die aktuellen Termine können immer hier eingesehen werden: https://foodsharing.de/fairteiler?sub=ft&id=2851 An den Sonntagen werden, weil Fruchthof und Großmarkt sonntags ja geschlossen sind, Lebensmittel von anderen Kooperationspartnern verteilt. Foodsharing.de arbeitet mit Supermärkten, Bäckereien, Wochenmärkten, Hotels, sogar mit der Berliner EM-Fanmeile und anderen zusammen.

Die Initiative ist ein international wirkendes Online-Netzwerk...

...das überregional  zusammenarbeitet und regional in eigenständige (Unter-)Bezirke wie die lokale foodsharing-Initiative “MoHaTi”  unterteilt ist. So wird gewährleistet, dass lokal angepasste Lösungen gegen die Lebensmittelverschwendung gefunden werden, erklärt Katharina. Vor allem umfasst das die Kooperation und Netzwerkpflege mit Lebensmittelbetrieben direkt vor Ort. Die Lebensmittelretter organisieren sich in Teams, bei Bedarf zu jeder Tages- und Nachtzeit und sieben Tage die Woche. Dabei wird mildtätigen Organisationen wie z.B. der Berliner Tafel der Vortritt gelassen und dort angesetzt, wo andere Organisationen aufgrund der Menge oder auch der Art der Lebensmittel keine Abholungen realisieren können, z. B. bei kleineren Bäckereien und Obst- und Gemüsehändlern.

Erster Kooperationspartner war 2013 die Handelskette Bio-Company

Damals, im Jahr 2013, gab es 12 Abholungen in diesem Betrieb. Kein Vergleich zu zehn Jahren später: 2023 zählte foodsharing MoHaTi über 9.000 Abholungen in fast 50 Betrieben. Allein im Herbst 2024 sind innerhalb einer Woche drei neue Kooperationsbetriebe hinzu gekommen.

Katharina wohnt schon immer in Moabit

Katharina ist eine echte Moabiterin. Als Kind hat sie in den 90ern noch Milch in der Kanne aus der Markthalle geholt, erinnert sie sich. Sie wuchs hier auf, besuchte zuerst die Paulus-Schule und später die Liebfrauen-Schule. „Ich hab immer in Moabit gewohnt. Allerdings haben meine Aktivitäten lange Zeit meistens woanders stattgefunden.“ Katharina studierte Mathematik an der Freien Universität Berlin (FU) und arbeitet heute als Programmiererin für eine gemeinnützige Firma. Während ihrer Studienzeit gab die leidenschaftliche Beach-Volleyball-Spielerin - Hochschulsport-Kurse unter dem Motto „Aktive Pause“. Die FU hatte damals einen Fairteiler, in dem man gerettete Lebensmittel abholen konnte. Darüber erfuhr Katharina von Lebensmittelrettung und foodsharing und kam in Kontakt mit ausländischen Studenten. Bei denen war ihre Übersetzungshilfe gefragt, um ihnen das foodsharing-Regelwerk verständlich zu machen. Als sie bei ihren Übersetzungen immer mehr darüber erfuhr, dachte sie:

„Da mache ich selber mit!“

Gesagt, getan. Heute sind sie und ihre Mitstreiterin Claudia Charles die Botschafterinnen von foodsharing MoHaTi. Mit viel Herzblut dabei und als Gesicht der lokalen Initiative im Stadtteil ist Katharina im Kiez inzwischen bekannt wie ein bunter Hund. Man winkt ihr zu, wenn sie auf dem Lastenrad vorbei fährt. „Ich fühle mich dadurch hier viel mehr verwurzelt.“

Wer sind Katharinas Mitstreiter?

Insgesamt machen um die 2.500 Menschen im Bezirk mit. Man kann sie sich als ein großes Spektrum aus der ganzen Bevölkerung vorstellen. Mehr Frauen als Männer, viele junge Leute wie z.B. Studenten, die sich durch die Lebensmittel eine finanzielle Entlastung versprechen, Menschen, die aus Überzeugung Lebensmittel retten, sowie Menschen, die nicht mehr arbeiten gehen, Zeit haben und Anknüpfungspunkte und neue Kontakte suchen. Daraus sind Begegnungen und Freundschaften in der Nachbarschaft entstanden. Viele haben eine große Motivation, anderen etwas Gutes zu tun. Katharina denkt dabei z.B. an Menschen, die Lebensmittel zu einer Senioren-WG und zu Abgabestellen wie der Berliner Stadtmission bringen. Seit 2013 gibt es ihn im „Bezirk MoHaTi“. 1.070 Tonnen Lebensmittel wurden bisher in diesen Stadtteilen gerettet, 60.000 Abholungen gab es.

Großteil der weggeworfenen Speisen sind Obst und Gemüse

Viel zu viele noch genießbare Lebensmittel werden hierzulande weggeworfen: „Ein Drittel werden für die Tonne produziert“. Rund 11 Mio.Tonnen Waren in Deutschland wären noch für den Verzehr geeignet. Das berichtete Katharina beim Stadtteilplenum Moabit im September 2024. Auch viele Personalkosten sowie Ressourcen wie Wasser und umsonst geschlachtete Tiere stecken hinter dieser Zahl. Ein Großteil der weggeworfenen Speisen sind hierzulande Obst und Gemüse (34 %). Die Initiative foodsharing arbeitet kostenlos und ehrenamtlich. Vor fast zwölf Jahren, Ende 2012, ging die Plattform foodsharing.de online. Vorausgegangen waren ein Buch und ein Kinofilm gegen den Skandal der weltweiten Lebensmittelverschwendung sowie erste Kooperationen mit Supermärkten. Betont werden muss, dass die Abholungen durch sogenannte „Foodsaver“ (Lebensmittelretter) nicht zu verwechseln ist mit dem „Containern“, bei dem sich Menschen unerlaubt weggeworfene Waren aus den Mülltonnen von Supermärkten holen. Lebensmittelrettung sei nur eine Symptombehandlung. Generell wünscht sich Katharina vereinfachte Rahmenbedingungen.

„Die eigentliche Vision von foodsharing ist es, sich selbst abzuschaffen.“

Doch davon sei man aufgrund der aktuellen Situation noch sehr weit entfernt, so Katharina. Für ihr großes ehrenamtliches Engagement bei foodsharing bekam sie 2024 den Klara-Franke-Preis, den der Ver­bund für Nach­bar­schaft und Selbst­­hilfe Moabit mit Hansaviertel alle zwei Jahre ver­gibt. Dadurch wurde ihre foodsharing-Initiative auch für den Deutschen Engagementpreis nominiert und kam dort unter die ersten 12 Plätze unter insgesamt 353 Projekten

Wie es weitergeht?

Es gibt eine zunehmende Nachfrage von Kooperationspartnern. Auch große Hotelketten möchten inzwischen mit foodsharing zusammenarbeiten. „Nur leider haben wir noch zu wenige Menschen, die das Organisieren von Abholung und Verteilung auf Seiten von Foodsharing übernehmen.“ Mitmachen ist also sehr gefragt. Wer selbst Lebensmittel retten möchte, sollte sich zuerst mit dem Konzept vertraut machen, dann online ein Quiz mitmachen und eine Rechtsvereinbarung unterschreiben. Im Anschluss erfolgen drei Einführungs-Abholungen sowie ein Neulingstreffen zum Thema Hygiene und dem allgemein Zurechtfinden auf der Website foodsharing.de. Man braucht große (Fahrrad-)Taschen, Kühlakkus und einiges mehr. Sehr wichtig ist es, bei den Abholungen und Verteilungen pünktlich zu sein. Am besten ist es wahrscheinlich, sich bei Interesse einfach mal eine Verteilung in der Bremer Straße anzusehen.

Eine Fruchthof-Abholung und die spätere Fairteilung von "fair teilen" in Moabit zeigt eine Reportage auf SPIEGEL-TV: https://www.canva.com/design/DAGQrez1G-8/OGSHl_XfTnycG-wKB0EthQ/watch

Mitmachen bei der Lebensmittelrettung? Mit E-Mail-Adresse bei foodsharing.de registrieren. Dann bekommt man Zugriff auf eine Karte, auf der man Essenskörbe zum Abholen sehen kann oder selbst Lebensmittel veröffentlichen kann, die man zum Teilen anbietet. Außerdem sind dort Fairteiler-Standorte und öffentliche „Fairteilungen“ einzusehen. Dort gibt es auch Informationen, wie man selbst Abholer bei Kooperationsbetrieben werden kann.

Weitergehende Informationen auf foodsharing.de und https://bit.ly/foodsharing-moabit

Kontakt zu Katharina Mölter: moabit@foodsharing.network

Text & Interviewfotos © Gerald Backhaus 2024, alle anderen Fotos stammen von Katharina Mölter