Der Filmrauschpalast

Interviewpartner Sophia Derda, Judith Gehrke und Hendrik Klatte (von links)
Im Kinofoyer...
...und im Kinosaal.

Moabits unabhängiges Kino in der Lehrter Straße 35

von Gerald Backhaus

Im Saal läuft mit „Living On One Dollar“ gerade ein Film über die Vergabe von fairen Krediten. Um 20 Uhr steht dann der oscarprämierte Film „The Favourite“ auf dem Programm. Wir treffen uns zum Interview im Foyer in der ersten Etage der Kulturfabrik Moabit (KUFA) in der Lehrter Straße 35. Neben Sophia Derda und Judith Gehrke ist unerwartet auch Hendrik Klatte dabei. Er hat gerade Schicht, was bedeutet, dass er am Tresen Kinokarten und Getränke verkauft und gleichzeitig Filmvorführer ist. Diese Tätigkeit beinhaltet heute natürlich nicht mehr, Filmrollen einzulegen. In einem digitalisierten Betrieb, der mit dem gängigen DCP-Kino-Filmformat arbeitet, verrät Hendrik, wird nur noch auf's Knöpfchen gedrückt. "Im laufenden Betrieb ist die digitale Projektion also eine starke Erleichterung“. Er stammt aus der Gegend von Hannover und lebt seit 2009 in Berlin. Während seines Pharmaziestudiums suchte er einen Ausgleich, fand Gefallen am Filmrauschpalast, trat dem Verein Filmrausch Moabit e.V. 2013 bei und übernahm rasch Verantwortung in dem unabhängigen Kiez-Kino. Aktuell ist er u.a. für die Einarbeitung neuer Mitarbeiter und für die Dienstpläne zuständig. Der 30-jährige organisiert aber auch die Reihe „Music for Cinema“, die aus der vorherigen Veranstaltungsreihe „Film und Konzert“ von 2016/17 hervorging. Für den Filmrausch Moabit e.V. – dem Trägerverein des Kinos Filmrauschpalast- geht es nämlich nicht nur um das Vorführen von Filmen, sondern auch um die Förderung von audiovisuellen Performances vor und über die Leinwand.

Sophia aus Bremen lebt seit drei Jahren in Berlin. Sie studierte Theater- und Kulturwissenschaften und befindet sich derzeit in einer Umorientierungsphase. Ähnlich wie Hendrik lernte die 23-jährige das Kiez-Kino zuerst als Gast kennen, bevor sie im Sommer 2017 mit der Übernahme von Arbeitsschichten begann. Seit Mai 2018 gehört sie dem achtköpfigen Vereinsvorstand an und kümmert sich vor allem um die Filmauswahl und die Disposition der Filme. „Es ist unglaublich viel Arbeit. Im Durchschnitt bin ich drei Stunden am Tag für den Filmrauschpalast tätig.“ Über die Auswahl der Filme, die im Schnitt drei Wochen lang zu verschiedenen Uhrzeiten laufen, wird einmal im Monat zusammen mit allen Vereinsmitgliedern abgestimmt. Das Spektrum reicht von deutschen und europäischen Filmen bis zu asiatischen Produktionen, von künstlerischen Autorenfilmen und „Arthouse“-Kino bis hin zu US-amerikanischen Kassenschlagern. Die Programmgestaltung ist an keine Genres gebunden und „muss uns selber gefallen.“

Rund 35 Mitglieder hat der Verein Filmrausch Moabit e.V. aktuell. „Vom Alter her gibt’s bei uns alles, von 18- bis über 60-jährigen Leuten“, erzählt Sophia. „Darunter sind sowohl richtige Film-Nerds als auch Angestellte, die sich neben ihrem Hauptberuf gern ehrenamtlich einbringen.“ Seit Anfang der neunziger Jahre existiert das ungewöhnliche Kino in der Lehrter Straße 35, genauer gesagt seit der Besetzung des Gebäudes. In der Zeit davor, seit 1989, war es zunächst als Wanderkino an verschiedenen Orten in Moabit zu Gast. Im Kinosaal gibt es 45 Plätze, an normalen Tagen laufen drei Vorstellungen, am Wochenende sind es manchmal bis zu fünf am Tag. 2017 gehörten die Kombinationen aus den alten und neuen Versionen von „Trainspotting“ und „Bladerunner“ zu den größten Erfolgen, „da gingen unsere Besucherzahlen durch die Decke“. Generell laufen die Filme immer dann besonders gut, so die Erfahrung, wenn sie an andere Aktionen wie Nachgespräche oder Konzerte gekoppelt sind. So wenden sich ab und zu auch Externe an den Vereinsvorstand, um sich ganz konkret einzubringen. Ein Universitätsdozent veranstaltete eine Reihe mit Filmen des Regisseurs Paul Verhoeven und brachte zu den Vorstellungen viele seiner Studenten mit. Überhaupt widmen sich die Vereinsmitglieder vielen ganz speziellen Themen. Im April wird eine Filmreihe mit der queeren Partyreihe "Berries" anlaufen, der erste Film wird "Young Soul Rebels" sein. Unter dem Titel "MangaMonday" zeigt der Filmrauschpalast am zweiten Montag im Monat japanische Animationsfilme. Und in der Sommersaison von Mai bis September wird es an zwei Abenden in der Woche wieder das erfolgreiche, spendenbasierte Freiluftkino „im Garten der Kulturfabrik Moabit geben. Regelmäßig alle zwei Wochen findet sonntags eine „Sneak Preview“ statt, bei der dem nichtsahnenden Publikum ein Überraschungsfilm gezeigt wird.

Judith, im Vereinsvorstand für die Mitgliederverwaltung und die Vermietung der Räumlichkeiten verantwortlich, ist seit 2015 mit im Boot. Sie stammt aus Münster, arbeitet eine Stiftung in Berlin als Projektmanagerin und wohnt seit 10 Jahren in Berlin. Drei Jahre davon wohnte sie in direkter Nachbarschaft zur KUFA in der Lehrter Straße. „Damals gab es hier noch gar keine Bar, und auch kaum WG's“, erinnert sie sich. „Ich kannte das Kino gut und wollte mich gern ehrenamtlich im Kiez engagieren. Ich möchte dazu beitragen, diesen historischen Ort nicht nur für die Nachbarschaft zu erhalten.“ Auch wenn es einen professionellen Kinotechniker und jemanden für die Buchhaltung gibt, im Filmrauschpalast wird nichts von einer Person allein entschieden. Zwei bis drei Mal im Monat wird das unabhängige Kiez-Kino aktuell vermietet. „Wir arbeiten nicht gewinnorientiert und stellen unsere Räume gern zur Verfügung. Die Palette reicht dabei von Geburtstagsfeiern und Hochzeiten über Filmvorführungen kleinerer Vereine bis hin zu Podiumsdiskussionen. Unsere Vermietungseinnahmen ermöglichen uns dann wieder mehr Freiheiten bei der Auswahl von Filmen und auch so etwas banales wie die Anschaffung von Büromaterialien.“ Die aktuelle Entwicklung in Moabit Ost und speziell die Neubauten in und um die Lehrter Straße sehen Judith, Sophia und Hendrik ähnlich. Die drei sind in ihrer Beurteilung etwas zwiegespalten: sie erhoffen sich einerseits mehr Kinogäste durch den Zuzug in den zahlreichen Neubauten im Gebiet. Andererseits wünschen sie sich sehr, dass ihre Stammgäste nicht verdrängt und zu einem Umzug gezwungen werden, so dass sie in der Folge eine weitere Anreise zu ihrem Kino haben.

Zum aktuellen Programm: http://www.filmrausch.de

Interesse an der Anmietung des Kinos? - Kontakt: vermietungen@filmrausch.de

Fotonachweis/Copyright: Evelina Maddzan (Fotos Nr. 3, 6, 8, 9 und 10 von oben), alle übrigen Fotos stammen von Gerald Backhaus.