Altes Handwerk um die Ecke

Die Buchbinderei Klünder in Moabit

von Gerald Backhaus

Einer der schönsten Orte in Moabit, denke ich gleich beim Betreten des Ladengeschäftes in der Rathenower Straße. Die Werkstatt mit ihren fast fünf Meter hohen Decken fasziniert sicher jeden, der sich für Bücher, Schriften, Papiere und Kartons interessiert. Buchbinderin Alexandra Klünder kommt die Treppe herunter aus dem Zwischengeschoss, das als Büro und Aufenthaltsraum dient. Etwas später folgen ihr Vater Christian Klünder und die Mitarbeiterin Saki Ozeki, und dann sind wir beim Gespräch zu viert.

Eine der ältesten Buchbindereien

1923 gegründet, seit 1925 in einer Remise im Hof und ab Anfang der 40er Jahre in diesen Räumen ist diese Buchbinderei eine der ältesten ihrer Art in Berlin. „Wir sind die längsten Mieter im Haus.“ Christian Klünder absolvierte hier von 1969 bis 1972 seine Lehre beim damaligen Inhaber Helmut Käthner in der „Sortiments- und Bibliotheksbuchbinderei“. Im Jahr 1980 übernahm er als junger Mann das Geschäft von ihm. Käthner selbst hatte als Lehrling beim Gründer Franz Siebentritt hier begonnen. Mit den Klünders ist das inhabergeführte Unternehmen nun zum Familienbetrieb geworden. 

Schon als Kind an das Handwerk herangeführt

Alexandra, Jahrgang 1976, hat schon als kleines Kind in der Werkstatt gebastelt, während ihr Vater daneben u.a. Fachzeitschriften und Bücher band. Nach der Schule studierte sie zunächst Museumskunde an der FHTW Berlin, bevor sie in die Fußtapfen ihres Vaters stieg und eine Buchbinderlehre wie er machte. Sie lebt in Kreuzberg und kommt meistens mit dem Fahrrad zur Arbeit nach Moabit. Hier „in unserer abgeschirmten Ecke“ findet sie es nicht so gentrifiziert wie in Kreuzberg. 

Kundschaft um die Ecke

Viele ihrer Kunden wohnen in der Nähe, darunter sind Intellektuelle und Künstler, aber auch die Großmutter, die ein Märchenbuch für ihre Enkel binden lässt. Da wären wir schon an der großen Palette an Aufträgen, die hier bearbeitet werden. „Mehr Leute, als man denkt, schreiben etwas selbst oder möchten etwas als Geschenk gestalten.“ Was bei Klünder entsteht, ist „einfach haptischer und individueller als ein Fotobuch aus der Drogerie“. 

Früher Bibliotheken und Ministerien, heute Filmproduktionen

Gab es in früheren Zeiten viele Aufträge von wenigen Großkunden wie Bibliotheken und Ministerien, zählen heutzutage auch Requisiten für Filmproduktionen wie die Fernsehserie „Babylon Berlin“, Arbeiten für Architekturbüros und Speisekarten für Restaurants zum Portfolio des Handwerksbetriebes. Weil die vielen kleineren Aufträge sehr individuell sind, gehören entsprechend viele ausführliche Beratungsgespräche zum Alltag in der Werkstatt. Ein immer größer werdender Teil davon muss auf Englisch geführt werden, weil die Kunden kein Deutsch können. Da kommt Alexandra Klünder zu Gute, dass sie ein Jahr in den USA verbracht hat: „Das ist wirklich ein Wettbewerbsvorteil! Hätte ich nie gedacht.“ 

Von Fotobüchern bis zu Handpressendrucken

Aufträge von Privatkunden sind an der Tagesordnung, so wie der eines jungen Paares, das nach einer Reise ein Fototagebuch gestaltet hat, oder von einer älteren Dame, die ihre eigenen Gedichte in 30 Bänden für die Familie herausbringt. Gestaltet werden hier Handpressendrucke, also Texte mit Kunst. Und manchmal geht es in Richtung Manufakturarbeit, wenn z.B. ein Jurist aus Süddeutschland ab und zu 50 Bände in Moabit herstellen lässt. 

Spezialaufträge sind das Salz in der Suppe

Ein anderer Kunde lässt auf Pergament aus getrockneter Tierhaut für Einbände blau färben. Und wieder ein anderer ließ bei Klünders eine Kiste herstellen, in die eine Weinflasche mit Glas, Zigaretten und weiteres Zubehör hinein passt, Wildleder innen und außen ein Leinenbezug. Bis hin zu mannshohen Puppenhäusern, Koffern und Schachteln reichen die Spezialaufträge. Er kann bei sowas schlecht Nein sagen. „Erstmal Auftrag annehmen und dann überlegen, wie man es realisiert“, lautet oftmals die Devise. Kurze Unterbrechung, weil eine Kundin kommt, die ein Holzbuch abholt. Ein Holzbuch? Ja, in diesem Buch befindet sich eine Sammlung von hauchdünnen Holzmustern.

Wie Saki Ozeki hier gelandet ist? 

In ihrer Heimat Japan hatte die junge Frau Grafikdesign studiert und bei einer Buchbinderei in Tokio gearbeitet. Als sie nach Deutschland kam, wurde sie Studentin der Kunsthochschule Berlin-Weißensee in der Fachrichtung Textildesign. Eigentlich hatte sie an der Burg Giebichenstein in Halle Buchkunst studieren wollen, was damals leider nicht klappte. 2016 lernte sie die Buchbinderei Klünder durch ein Praktikum kennen. Fünf Jahre später begann sie hier ihre Ausbildung zur Buchbinderin und arbeitet seit ihrem Abschluss im Sommer 2023 in der Werkstatt. 

„Ja, die Studenten werden wir einfach nicht mehr los“

scherzt Christian Klünder und Saki lacht. Fünf Auszubildende hatte er in seiner Zeit als Meister und insgesamt wohl um die 80 Praktikanten, schätzt er. Nicht mitgezählt sind da die zahlreichen Schülergruppen und Tagespraktikanten, die nur für einen Tag mal schnuppern möchten. Leider steht die Buchbinderausbildung aktuell unter keinem guten Stern. Nur noch vier Lehrlinge gebe es in ganz Berlin und Brandenburg, zwei davon im Bereich Industrie und zwei im Handwerk. 

Aus Schülermangel stehe die Berufsschule vor dem Aus, 

so dass es wohl zu einer Konzentration an wenigen Standorten für ganz Deutschland kommen wird, vermutet Alexandra Klünder: „Das gilt für alle Nischenberufe“. Schriftsetzer z. B. sei mittlerweile gar kein Ausbildungsberuf mehr. Insgesamt sind in Berlin wohl noch ganze 10 Buchbinderbetriebe aktiv, schätzt Vater Christian. Weil er den Meistertitel hat, konnte er Saki ausbilden. Doch die Meisterpflicht wurde aufgehoben, so dass es auch seitens der Betriebe demnächst kaum noch Lehrstellen in Berlin geben wird. Obwohl die Kundschaft eigentlich da ist, rechnet Christian Klünder vor: Wenn in Berlin auf einen Buchbinder rund 160.000 Einwohner kommen, dann „kann ick das ja kaum schaffen!“ Mittlerweile arbeitet er seit 55 Jahren hier. 

„Ich war nie auf Wanderschaft, aber immer offen für Neues.“ 

Auf interner Wanderschaft, so nennt er das. „Nur so kommt man weiter!“ Einschneidend für ihn war besonders die Zeit nach dem Mauerfall 1989/90, als die Berufskollegen in der DDR ihre Leistungen günstiger anboten und es dadurch im Westen einen Auftragseinbruch gab. 

Und wie geht’s weiter? 

Wird es eine Renaissance im Bereich der Buchkunst und -binderei geben? Die Hinwendung zum Digitalen setzt sich fort, ist sich Alexandra Klünder sicher. „Aber ein Gegentrend hin zum Handwerk existiert auch“. Natürlich sei das auch eine Frage des Geldes. Gebundene Bücher als Luxusprodukt? „Das war eine lange Zeit so,“ berichtet Christian Klünder: „Goethe hatte sieben Buchbindereien beschäftigt. Damals war ein Buch etwas besonderes. Erst seit einer relativ kurzen Zeit sind Bücher so billig.“ Aktuell steigen die Preise von gedruckten Büchern ja an. Alexandra ergänzt:„Hauptsache, dass die Leute lesen!“ Die Klünders, Vater und Tochter, sehen einen Schwerpunkt ihrer Arbeit, der auf jeden Fall erhalten bleiben wird, in Reparaturen von Büchern und anderen gedruckten Werken. 

Kontakt zur Buchbinderei Klünder - Rathenower Straße 60, 10559 Berlin, Tel. 030 / 394 5806, info@kluender-buchbinderei.de Instagram: @kluender_buchbinderei.de

Text & Fotos © Gerald Backhaus 2025