Das Internet entgoogeln?
Über mehr Privatsphäre und Datenschutz im Digitalen
Interview mit Michael Wirths vom Topio e.V.
- von Gerald Backhaus -
Fußball-EM-Tickets nur über die UEFA-App? Und die funktioniert nur, wenn man ein Google- oder Apple-Konto besitzt. Große Einzelhandelsunternehmen wie die Discounter Penny und Lidl werben massiv mit „Prozenten“, die man sparen kann, wenn man die jeweilige App auf dem Smartphone einrichtet. Und die Deutsche Bahn bietet ihre Rabattkarte BahnCard bald nicht mehr als Karte an, sondern nur noch digital in der Bahn-App. Sparpreise gibt es nicht mehr am Automaten. Wer also im Digitalen nicht wie gewünscht mitziehen kann oder will, wird vom Staatskonzern mit höheren Fahrpreisen bestraft. Das ist sehr ärgerlich. Und es stellt sich die Frage, wie man darauf reagieren kann. Licht ins Dunkel bringt ein Besuch an einem Stand in der Arminiusmarkthalle. Dort bietet ein kleiner gemeinnütziger Verein den großen Digitalkonzernen die Stirn. Wenn es sowas nicht schon gäbe, müsste man es erfinden.
Der Topio-Stand in der Arminiusmarkthalle
Michael Wirths verabschiedet kurz einen Kollegen und empfängt mit einem Lachen im Gesicht. Wir sitzen zum Interview in Sesseln, denn es gibt eine gemütliche Abteilung in dem Markstand, an dem früher Comics gehandelt wurden. Der Stand wirkt offen und einladend, so dass man sich ohne Berührungsängste hier niederlassen und wohlfühlen kann. Er befindet sich ganz hinten in der Reihe vom Imbissstand „Drei Damen vom Grill“ und wird vom Topio e.V. betrieben. Topio wirbt mit „public space for privacy“, auf Deutsch: Öffentlicher Raum für Privatheit. Doch zunächst zu Michael, der aus Freiburg stammt und seit 2001 in Berlin lebt. Der Aktivist für mehr Datenschutz und Privatsphäre auf Endgeräten wohnte erst in Kreuzberg und Prenzlauer Berg, bevor er 2009 nach Moabit zog. Von Beruf ist er Grafik- und Web-Designer, gründete 2006 eine Werbeagentur und arbeitet vor allem im Bildungsbereich. Als Mitbegründer und Vorstand des Topio e.V. engagiert er sich für „unsere Grundrechte im digitalen Zeitalter“, denn
„Topio ist nicht die große Utopie, sondern die kleine Schwester der Machbarkeit.“
Keiner weiß, was Google, Apple und Meta in ihren Serverräumen machen. Im Kern geht es an dem Topio-Stand deshalb darum, freie Betriebssysteme auf die Handys und Laptops von Interessierten aufzuspielen. Mit freier, offener Software wie z.B. dem Betriebssystem Linux geben Michael und sein Team aus zwei Mini-Jobbern und zahlreichen Ehrenamtlichen allen Menschen, denen das wichtig ist, transparente und überwachungsfreie Werkzeuge in die Hand. „Wir leisten damit einen Beitrag zu einer selbstbestimmten, gleichberechtigten Gesellschaft.“ Die Kundschaft ist breit gefächert. Die meisten sind zwischen 25 und 50 Jahre alt, aber auch viel ältere Menschen finden Weg zu Topio. Da kommen Leute mit Tasten-Handys, die sich technisch wenig auskennen, genauso wie Leute, die sehr vertraut mit der digitalen Welt sind, denen aber die Bedingungen zum Datenschutz nicht gefallen. Michael erinnert sich an einen 83-jährigen Mann ohne jede Handy-Kenntnisse, der sich zunächst einmal die Fingernägel kürzer schneiden musste, um auf sein erstes Smartphone überhaupt tippen zu können.
Kampf gegen die Marktdominanz der großen Konzerne
Nach seiner Motivation befragt, erzählt Michael, dass sein Unwohlsein mit der Marktdominanz der großen Konzerne wie Google, Meta und Apple schon sehr früh anfing. Damals arbeitete er als Webdesigner. „Alles musste da man auf Google abstimmen“, berichtet er über die Suchmaschinenoptimierung von Webseiten. „Hast Du einen Laden, der nicht auf Google Maps mit einem Eintrag erscheint, existiert Du für viele Leute quasi gar nicht. Und viele schauen gar nicht mehr direkt auf einzelne Webseiten, sondern ‚googeln‘ nur noch.“ Als die Smartphones aufkamen, fand Michael, dass da gründlich etwas in die falsche Richtung läuft. Vieles an den neuen Technologien zielt seiner Meinung nach nur darauf, dass die Konzerne so genau wie möglich an Kundendaten herankommen.
Trackingfreies Smartphone und dezentrale Plattformen
Trackingfreie Handys wären eine Alternative, um die Hoheit über eigene Daten wie Kontaktpersonen, örtliche Bewegungen, Internetkäufe und Vorlieben zu behalten. Topio empfiehlt den Umstieg von Facebook, Instagram, Tik Tok & Co auf dezentrale Social-Media-Plattformen wie Mastodon und setzt bei seiner Beratung auf alternative Anbieter von Betriebssystemen wie Linux statt auf das dominierende Windows von Microsoft oder für Smartphones z.B. das Betriebssystem LineageOS statt das weiterverbreitete Android von Google. Mehr Datenschutz und Privatsphäre im Digitalen - ist das nicht ein bisschen wie bei dem Kampf von David gegen Goliath? „Wir versuchen, den Frust vieler Menschen über die Digitalisierung zu kanalisieren. Unser Ziel ist eine freie Teilhabe und eine am Gemeinwohl orientierte Digitalisierung.“
Der Verein und seine Mitstreiter
Topio existiert seit 2017 und ist immer noch im Aufbau befindlich, so Michael. Der Verein mit aktuell sieben Mitgliedern und rund 25 ehrenamtlich Engagierten finanziert sich einerseits über den Verkauf von Smartphones mit freien Betriebssystemen und Anwendungen (Apps/Applikationen) - die kosten dann erheblich weniger - und andererseits durch Spenden und Fördergelder. Dabei ist man froh über die Kooperation mit manchen Firmen. Darunter ist z.B. ein Unternehmen, das einen seiner Mitarbeiter für einen Tag pro Woche freistellt, damit er bei Topio ein paar Stunden lang den Leuten das Betriebssystem Linux auf Laptops aufspielen kann. Michael selbst geht regelmäßig in eine Grundschule im Wedding, um dort mit Kindern und Jugendlichen kreative Projekte zu machen, u.a. aus Müll bzw. Elektroschrott: „Da öffnen wir alte Rechner und schauen hinein, was man aus den einzelnen Bestandteilen so alles machen kann.“
Vortragsreihe „Smarte Welt? Grundrechte und digitale Zukunftsvisionen“
Topio steht für „Orte digitaler Selbstbestimmung“. Michael und sein Team machen auf offene und freie digitale Anwendungen und Plattformen aufmerksam. Um mehr Menschen als durch die Präsenz am Marktstand zu erreichen, organisiert der Verein spannende Veranstaltungen unter dem Motto „Smarte Welt? Grundrechte und digitale Zukunftsvisionen“. Mitte Juni 2024 ging es in der Vortragsreihe in der Zunftwirtschaft der Arminiusmarkthalle um „Medien in der Krise - Zu viel macht für Big Tech?“ Da kamen rund 60 Interessierte. Und am 5. Juli 2024 steht das Thema „Wie viel Überwachung verträgt unsere Demokratie?“ auf der Tagesordnung.
Zusammenarbeit mit den Bibliotheken
Sehr froh ist Michael darüber, dass Topio die Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) für eine Kooperation gewinnen konnte. Die ZLB ist die größte öffentliche Bibliothek Deutschlands. Topio wird deren Projekt „Digital-Zebra“ unterstützen. Das ist eine neue Art Beratungsstelle in den mehreren Berliner Bibliotheks-Standorten, in der sich speziell geschultes Personal um Menschen kümmert, die digitale Unterstützung brauchen. In Moabit hat sich durch die Anregung von Topio ein Stammtisch „Analoges Leben“ gegründet, bei dem sich u.a. Leute treffen, die sich in ihrem Umfeld ohne Smartphone immer mehr an den Rand gedrängt fühlen. Dieser Stammtisch einmal im Monat an einem Donnerstagabend statt (mehr Infos dazu erscheinen bald auf die Webseite von Topio).
Überwachungsfreie Kommunikation?
Michael Wirths wünscht sich eine Gesellschaft, in der überwachungsfreie Kommunikationsmittel zum Alltag gehören. Damit gehören er und Topio zu den Vorreitern. Das kann man vielleicht etwas mit den ökologisch produzierten Lebensmitteln in den 1980er Jahren vergleichen. Damals gab es so etwas nur in ausgewählten Reformhäuser, während heutzutage „Bio“ selbst in großen Discounter-Supermärkten zum Standardprogramm gehört. Michael findet es erstrebenswert, dass auch auf dem digitalen Markt irgendwann mehr Diversität herrscht: sowohl bei den „sozialen Medien“ - also nicht mehr nur Instagram, Facebook, X und Tik Tok dominieren - als auch auf dem Markt der Endgeräte und Betriebssysteme.
Mehr "freie" Geräte in der Zukunft möglich?
Er wünscht sich, dass „freie“ Geräte irgendwann in der Mehrzahl sind. 20 Prozent Marktanteil für Android und 20 Prozent für Apple würden doch ausreichen. Ob das naiv ist? Aktuell bestehe kein wirklicher Markt bei der Übermacht der wenigen großen Anbieter. Es brauche allerdings noch „ein Momentum“, so Michael, bei dem sich der Wind drehe. Dann sei Topio „vorn dabei.“ Wie es dazu kommen könnte? Da ist viel Aufklärungsarbeit nötig. Und wir alle müssten unsere übliche Denkweise verändern, denn: „Klappt etwas bei Google oder Windows nicht, suchen die meisten Menschen den Fehler bei sich selbst. Bei freier Software hingegen wird erst mal über die Software gemeckert.“ Wer kennt diese Situation nicht: irgendwann werden auf dem Handy keine Updates (Aktualisierungen) mehr angeboten, was einen quasi zum Kauf eines neuen Gerätes zwingt. Das muss nicht sein! Gut wäre es, wenn immer mehr Menschen ihre Smartphones oder Laptops nicht schon nach zwei, drei Jahren durch neue ersetzen würden. Faire Technik ist möglich? Michael bejaht das. Fair und nachhaltiger wäre es, wenn man Betriebssysteme verwendet, die es zulassen, auch ältere Geräte weiter zu benutzen, wie es bei freien Betriebssysteme wie LineageOS, eOS oder CalyxOS meist der Fall ist. Und unter fairen Bedingungen produzierte Smartphones kann man bei Unternehmen wie der deutschen SHIFT GmbH („Shiftphones“) und der niederländischen Fairphone B.V. („Fairphones“) kaufen. Michael selbst benutzt übrigens ein Smartphone von Sony mit dem Betriebssystem LineageOS ohne SIM-Karte, das nur 60 Euro gekostet hat. Parallel hat er ein Tastentelefon zum Anrufen.
Kontakt zum Topio e.V.
Marktstand in der Arminiusstraße 2-4, 10551 Berlin, Mail: hallo@topio.info, mehr zu Topio und den verschiedenen Projekten auf www.topio.info
Sprechzeiten in der Arminiusmarkthalle - Öffnungszeiten & Programm:
Montag 15 - 18 Uhr Smartphone & Laptops - Beratung & Unterstützung
Dienstag 16 - 19 Uhr ReparierBar (Repair-Café)
Mittwoch 16 - 19 Uhr Smartphone - Beratung & Unterstützung
Freitag 17 - 20 Uhr Smartphone - Beratung & Unterstützung sowie OPEN TOPIO - Veranstaltungen
Text und Fotos, wenn ich anders gekennzeichnet: © Gerald Backhaus 2024