Eine für alle

Schulleiterin Annedore Dierker beim Interview in ihrem Büro (Fotos: © Gerald Backhaus, 2018. Die untersten drei Bilder: © Hilla Stute und Sabeth Schmidthals, beide sind Kolleginnen der THG)
Aktion "1000 stehen zusammen - Eine Schule für Alle: Von Klein nach Groß" am 6. Juli 2016
Schulleitung on the road - bei der Menschenkette 2016
Bei der Aktion "1000 stehen zusammen - Von Klein nach Groß"

Bei der Chefin der THG - im Gespräch mit Schulleiterin Annedore Dierker 

von Gerald Backhaus

Dass sie sportlich ist, sieht man Annedore Dierker auf den ersten Blick an. Und das liegt nicht daran, dass sie ein Stehpult in ihrem Direktorenzimmer hat, auf das wir beim Interview von ihrer Besprechungsecke aus schauen. Ihr Blick vom Pult schweift sicher selten über den Fußballplatz und auf die Quitzowstraße, wenn sie hier ihre vielfältigen Verwaltungstätigkeiten erledigt. Am Tag erreichen sie im Schnitt rund 100 E-Mails und Briefe. Einiges davon kann sie delegieren, doch ein Großteil muss von ihr persönlich beantwortet werden. Annedore Dierker, eine gebürtige Berlinerin aus Wilmersdorf, ist seit viereinhalb Jahren Chefin der Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule - kurz THG - im Osten Moabits. Von der Zuckertüte bis zum Abi - 13 Jahre beträgt die Zeitspanne, die die Kinder hier verbringen können. Aktuell besuchen rund 1.060 Mädchen und Jungen von der ersten Klasse bis zur 13. Klasse gemeinsam die Schule. Multilingual geht es hier zu, berichtet Annedore Dierker, weil die Kinder und Jugendlichen neben dem Deutschen 30 Herkunftssprachen mitbringen. Ein großer Schwerpunkt liegt auf dem Türkischen und Arabischen, inzwischen kommen aber auch vermehrt Mädchen und Jungen aus den Nachfolgestaaten Ex-Jugoslawiens, aus Afghanistan und dem afrikanischen Raum. Insgesamt sind 80 Prozent der Schülerschaft nichtdeutscher Herkunft, und über zwei Drittel sind „lernmittelbefreit“. So wird in der Schulbranche umschrieben, dass ein Kind aus einem Haushalt stammt, der von staatlichen Transferleistungen lebt. Das Kollegium besteht aus insgesamt rund 130 Personen, der Altersdurchschnitt liegt bei etwa 46 Jahren. Davon sind etwa 100 Kolleginnen und Kollegen hier am Standort Quitzowstraße beschäftigt und die anderen 30 arbeiten im Grundschulbereich. Dieser befindet sich in der Siemensstraße in rund 1,3 Kilometer Entfernung vom Hauptsitz. Diese Distanz stellt in mancher Hinsicht ein Problem oder auf Neudeutsch „eine große Herausforderung“ dar, gibt die Schulleiterin, die auch in ihrer heutigen Funktion noch sechs Wochenstunden Sportunterricht in der Grundstufe und in einer 11. Klasse gibt, unumwunden zu. Die Strecke wurde schon einmal mit der eindrucksvollen Aktion „Tausend stehen zusammen“ symbolisch überbrückt, als Schülerinnen und Schüler von der 1. bis 13. Klasse eine Reihe bildeten und sich  an den Händen anfassten. „Das war ein feines Bild“, erinnert sich Annedore Dierker.

Um zu verstehen, warum die beiden Schulteile so weit voneinander entfernt sind, muss man sich mit der Entstehung dieser Gemeinschaftsschule beschäftigen. Sie ging aus zwei Fusionen hervor. Vor acht Jahren vereinigte sich die hier in diesen Räumlichkeiten beheimatete Moses-Mendelssohn-Oberschule mit der damals eigenständigen James-Krüss-Grundschule in der Siemensstraße zu einer Gemeinschaftsschule. Das war 2010. Viel Überzeugungsarbeit war für diesen Prozess des Zusammenwachsens notwendig. 2012 ging es einen Schritt weiter. Da zog das berlinweit bekannte Aufbaugymnasium, das den Namen von Theodor Heuss, des ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland trägt, in den Gebäudekomplex an der Quitzowstraße mit ein. Die 3. Etage, das Erdgeschoss und die Unterrichtsräume im Keller wurden damals vom Gymnasium genutzt. 2013 erfolgte die zweite Fusion: das Gymnasium bereicht seitdem die 1. Gemeinschaftsschule und wurde ab dem Schuljahr 2013/14 zum Namensgeber für die Schule von Klasse 1 bis 13 - Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule. Seitdem können Moabiter Mädchen und Jungen die 13 Jahre zwischen Schuleinführung und dem Abitur hier innerhalb von einer Institution verbringen. 80 bis 100 Abiturienten gibt es seit dem ersten Jahrgang 2014. Annedore Direkter erinnert sich sehr gern an ihre erste Abiturfeier und -rede für diese Ersten in der Aula. Ein häufig zu beobachtendes Phänomen im Bezirk Mitte sei eine „Kiezflucht“ nach der 6. und nach der 10. Klasse: „Wir haben sehr viele, die nahtlos übergehen, aber auch oftmals leistungsstarke Schülerinnen und Schüler, die von uns nach der 6. auf’s Gymnasium nach Charlottenburg-Wilmersdorf oder Tempelhof-Schöneberg wechseln. Nach der 10. erleben wir den umgekehrten Effekt, da kommen Jugendliche von außen zu uns von Schulen, die selbst keine Oberstufe haben. Das ist für uns eine Bereicherung. Wir sind eine Schule für alle und bedienen unterschiedliche Niveaus.“ 60 bis 70 Prozent der Kinder bleiben nach der 6. Klasse, und rund ein Drittel der Zehntklässler macht weiter bis zum Abitur. Was gute Lehrerinnen und Lehrer auszeichnet? „Junge Menschen auf ihrem Lebensweg zu begleiten und dabei einiges bewegen zu können,“ findet die Direktorin, „sie zu formen und zu prägen, damit sie dazu befähigt werden, die Weltgeschicke in die Hand zu nehmen und sie mutig und aktiv mitzugestalten.“

Annedore Dierker lebt in Kleinmachnow, direkt an der Berliner Stadtgrenze. Wenn kein Stau auf der AVUS ist, schafft sie es in 40 Minuten mit ihrem Hybrid-Auto zu ihrer Schule. Ihre Laufbahn zeichnete sich schon früh ab: Ihr Vater war Konrektor einer Grundschule und sie gab schon als kleines Mädchen bekannt, dass sie später mal Studienrätin werden wolle. 1983 begann sie mit ihrem Studium auf Lehramt in den Fächern Sport und Politik und war nach ihrem Referendariat als Gymnasiallehrerin am Erzbischöflichen Ordinariat tätig. Im Anschluss wechselte sie fünf Jahre aus privaten Gründen in den Kölner Raum, wo sie an einer Realschule unterrichtete. Zurück in Berlin wirkte sie von 2008 bis 2010 am Marie-Curie-Gymnasium. Im Zuge der Berliner Schulstrukturreform, „die für mich spannend klang“, wechselte sie zur Max-von-Laue-Sekundarschule in Lichterfelde, die vorher eine Realschule war, wo sie Sport und Ethik unterrichtete und den Fachbereich WAT aufbaute. Die Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule leitet sie seit 2013. 

In der Zukunft „wollen wir uns noch mehr für den Kiez öffnen, und hier präsenter sein,“ ist ihr Wunsch. Die Lehrküche beispielsweise steht offen für Kochveranstaltungen, und die Werkstätten und die Aula sind ebenso für verschiedenste Aktivitäten und Veranstaltungen Externer nutzbar. Ein weiterer Wunsch bleibt wohl vorerst Zukunftsmusik. Zusammen mit einem Moabiter Architekten und dem Quartiermanagement Moabit Ost, „einem wunderbaren Partner für uns“, gab es 2017 eine Begehung eines benachbarten Spielplatzes. Das ist ein schattiges Fleckchen Erde, das kaum zum Spielen genutzt wird, so Annedore Dierker. Dort könnte man viergeschossig bauen, befand der Architekt. Und die Schulleiterin war begeistert, sie würde am liebsten die Grundstufe dort in einem neuen Gebäude unterbringen. Fertig wäre eine Art Campus. „Doch schnell wird das leider nicht passieren, von 20 Jahren ist da auszugehen“, so Annedore Dierker. Was vorher Realität werden wird, ist eine größere Durchmischung des Lehrerkollegiums. Bereits jetzt unterrichten zwei Drittel der Lehrkräfte in zwei Stufen, also z.B. von der 7. bis zur 13. Klasse. „Die individuelle Förderung wollen wir so leben, dass wir alle Potentiale entwickeln und entfalten können. Im Moment haben wir dabei den Fokus auf leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler gelegt, also dahin, wo wir Erziehungsdefizite bei den Eltern kompensieren müssen.“ Während die Polizei in früheren Jahren etwa einmal pro Woche wegen eines Gewaltvorfalls einen Einsatz in der Schule hatte, muss sie heute kaum noch einrücken. Das Klima hat sich sehr zum Positiven gewandelt, so Annedore Dierker. Dabei geholfen haben sicher die Streitschlichter, die Konflikthelferausbildung sowie Projekte wie „Faustlos“, in dem es darum geht, Probleme mit Worten statt Fäusten zu lösen. Doch es ist noch Luft nach oben: „Ich wünsche mir eine Schule ganz ohne Gewalt und prognostiziere, dass die THG in fünf Jahren eine Schule ist, in der sich alle wohl fühlen und in der das Vertrauen der Eltern in uns groß ist. So groß, dass sie auch ‚Überfliegerkinder’ zu uns schicken, weil sie wissen, dass auch diese Kinder bei uns sehr gefördert werden.“ Außerdem wünscht sie sich, wie viele Leitungskräfte im Bereich Schule - „das können Sie ruhig schreiben!“ - zusätzliches Personal.

Detaillierte Informationen zur Schule finden Sie auf http://thgberlin.de